Ausgabe Nr. 58 | Hey Migrantifa!

Liebe Leser*innen,

in dieser Ausgabe der Hinterland kommen ausschließlich Stimmen migrantischer und geflüchteter Menschen zu Wort! Nicht weil wir so toll sind, sondern weil es selbstverständlich sein sollte, es aber nicht ist. Migrantische und migrantisierte Gruppen sollten selbstverständlich gehört werden und sich nicht mühsam Gehörverschaffen müssen. Als eine der wenigen Personen mit Migrationsgeschichte in dieser mehrheitlich weißen Redaktion wurde ich diesmal auserkoren, das euch vorliegende Heft schmackhaft zu machen – mein erstes Mal Editorial – ist es nicht schön? Ich hab’ ein bisschen Pipi in den Augen. Ich hab‘s endlich geschafft, ich bin interegiert, aber macht bitte kein Auge!

Und wenn du mich in echt siehst, sag’: Mashallah, einfach die Hübsche! Aber ich schweife ab.

Das Gefühl sich in diesem Land fremd zu fühlen, das kenne ich sehr gut und wahrscheinlich auch viele andere Menschen mit Migrations- oder Fluchtbiografie. Dieses Gefühl des Fremdseins oder eher des Fremd-Gemacht-Werdens thematisiert auch Rapper Apsilon aus Berlin-Moabit in seiner Musik: „Wenn Deutschland mich wieder ansieht und sagt, mein Herz hat kein’n Platz hier. Wenn meine Brüder, meine Schwestern fall’n wie tote Blätter, schwarz-rot-gold’ne Blätter, fragen wir uns: Soll’n wir geh’n?“ Diese Frage greift er auch in seiner in diesem Heft veröffentlichten Rede auf. Über den Druck sich immer einmal mehr als der Rest beweisen zu müssen, um als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft gesehen zu werden, schreibt wiederum Autorin und Podcasterin Samira El Ouassil und spricht von „Aufstieg durch Anpassung“. Ganz und gar unangepasst schreibt sich auch Pia Chojnacki ihren Frust von der Seele. Frust, über die scheinheilige Empörung derer, die sich das Wiedererstarken der Rechten so gar nicht erklären können wollen.

Wie konnte das nur passieren? Die Frage nach der eigenen Identität und der eigenen Zugehörigkeit ist sehr komplex. Mach es mir doch nicht noch schwerer, indem du mich fragst, wo ich herkomme. Oder ein bisschen subtiler, wo mein Name herkommt. Oder indem du anfängst mich von außen zu definieren: „Bei euch ist das doch so!“ Welches euch? Meinst du bei mir im beschaulichen Sand hausen mit seinen schönen Sanddünen – da wo ich aufgewachsen bin? Oder meinst du bei mir in der Türkei? Aber hey, DU bist Deutschland! Und da sind ich und Menschen, die so aussehen wie ich, bestimmt mitgemeint. Dann ist ja alles gut.

Eure Dünenmaus
von der Hinterland-Redaktion

Gute Migrant*innen

Gute Migrant*innen

In Deutschland ist man angekommen, wenn man nicht mehr gefragt wird, woher man „eigentlich“ kommt, sondern, wenn man den Weg zur eigenen Integration noch mal nacherzählen soll. Unabhängig davon, ob man eine Migrationsgeschichte in Form einer Einwanderung oder Flucht hat oder einen Migrationshintergrund in Form nicht-herkunftsdeutscher Eltern. Denn die akzeptierte Migrant*in, das ist kein Mensch, das ist ein Plot: Aufstieg durch Anpassung, Leistung nach Leid. Es ist das schöne Märchen von der
gesellschaftlichen Durchlässigkeit, am liebsten erzählt von Leuten, für die eine sozial und ökonomisch aufgestiegene Migrant*in als anekdotische Evidenz für die behauptete Chancengleichheit herhalten muss.

Diese Geschichte beginnt stets im Soziotop der Sozialstatistik. Es gilt, den Bildungsstand der Eltern überwunden zu haben, das Deutsch muss entweder auf Gymnasialniveau brillieren oder aber in Rekordgeschwindigkeit erlernt worden sein, wehe man gehört zu jenen, die „nach 10 Jahren in Deutschland!!!” falsch deklinieren oder Artikel verwechseln. Wenn die Vita vom Plattenbau zur Promotion führt, dann ist man willkommen – und es wird so getan, als habe die Akzeptanz schon immer und mit aller Selbstverständlich keit bestanden. Dass Menschen während der Zeit im Plattenbau behandelt werden wie Abschaum, wird im Zuge der lobenden Leistungseuphorie gerne verdrängt. Es ist, als wolle eine Gesellschaft mit ihrer
betulichen Begeisterung für die vorbildliche Biographie einer Aufsteiger*in die vorhergehenden Demütigungen vergessen machen. Die Soziologie sagt: soziale Mobilität. Die Gesellschaft sagt: Respekt. Die Integrationsbeauftragte sagt: Leuchtturm. Und irgendwo nickt ein Friedrich Merz zufrieden.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Weiße Märchen

Weiße Märchenstunde
An der Berliner Volksbühne ist derzeit das Stück Weiße Witwe der jungen Wiener Filmemacherin Kurdwin Ayub zu sehen. Ein provozierendes Stück Theater, das mit Klischees von Orient à la „1001 Nacht“ und Erotik heftig operiert und in dem starke muslimische Frauen, gespielt unter anderem von der sehr authentischen Berliner Rapperin addeN, in einem islamischen Europa das Sagen haben. Soweit die Utopie. Aber es dauert nicht lange, und schon erklimmen die erwartbaren weißen, alten Männer die Weltbühne, um die Geschichte erneut zu übernehmen und zu dominieren. Ein Stoff, wie geschaffen für diese Hinterland Ausgabe. Wir baten Kurdwin Ayub uns drei Fragen zu beantworten …

In deinem Stück verarbeitest du unter anderem auch eigene Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung im Kunst- & Filmbetrieb. Welche wiederkehrenden Verhaltensweisen und Reaktionen kotzen dich besonders an?

Wenn mir Europäer sagen, was ich als Regisseurin mit Migrationshintergrund über Migration oder meine Kultur nicht erzählen darf, damit es unter dem weißen Blick „verträglich“ bleibt, dann trifft mich das hart. Ich bin in einem eher rechts geprägten Randbezirk
aufgewachsen, und habe mich später in meiner linken Kulturbubble so aufgehoben gefühlt. Aber inzwischen merke ich, dass es auch dort Rassismus gibt. Ich verstehe schon, wenn Menschen sensibel und achtsam sein wollen, damit sich niemand verletzt fühlt.
Das ist eh auch cool. Aber manchmal kippt das, dann wird es bevormundend, paternalistisch. Ein Beispiel: Ein Kinokurator wolltemeinen Film nicht zeigen, weil er meinte, sein „weißes“ Publikum hätte kein Recht, über die Probleme von Migrant*innen nachzudenken oder Einsichten zu gewinnen. Das ging mir dann doch zu weit.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Ich bin kein Problem – ich bin ein Mensch

Um dem Krieg zu entkommen, floh Amjad Abo Huwaij 2015 aus Syrien. In Deutschland hat er sich ein neues Leben aufgebaut und arbeitet beim Bayerischen Flüchtlingsrat in München.
Wegen der derzeitigen politischen Diskussionen fühlt er sich nicht mehr sicher und fragt sich, ob er überhaupt bleiben darf.

Ich bin 33 Jahre alt und 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich mich entscheiden müssen: für eine Rebellengruppe oder das Militär, um zu kämpfen. Aber ich wollte keinen Krieg führen. Ich wollte kein Blutvergießen, keine Gewalt. Ich wollte nur leben. In Frieden.

Ich habe den Krieg erlebt. Ich habe Dinge gesehen, die kein Mensch je sehen sollte. Zerstörung, Tod, Angst. Krieg ist nicht ehrenvoll. Er ist nicht heroisch. Er ist ekelhaft. Er nimmt dir deine Menschlichkeit. Und genau deshalb bin ich gegangen. Ich habe mein Zuhause, meine Familie, mein ganzes früheres Leben zurückgelassen und bin geflohen – um zu überleben. Als ich in Deutschland ankam, war alles fremd. Ich konnte kein Deutsch, ich hatte keine Wohnung, keine Arbeit. Nur den Willen, neu anzufangen. Ich habe die Sprache gelernt, ich habe jede Chance genutzt, um mich einzubringen. Heute arbeite ich,
zahle Steuern, und versuche, jeden Tag ein gutes Leben zu führen.
Ich arbeite als Ehrenamtskoordinator beim Münchner Flüchtlingsrat und unterstütze andere Menschen, die neu in dieses Land kommen – weil ich weiß, wie schwer der Anfang ist.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Illustration:Godwin Namanyabyoona