Lesen über… Grenzregime
Von Stephan Dünnwald
Lesen über… Grenzregime
Der Titel ist schier programmatisch: er verhüllt, dass es um das alte Thema Migration geht, und unterstreicht, dass es sich hier um ein Buch handelt, das sich diesem Thema aus einer bestimmten, und – zumindest in dieser Konzentration – neuen und kritischen Perspektive nähert
Dass der Sammelband neu daherkommt heißt nicht, dass er aus dem Nichts kommt. Die Beiträge gehen auf ein Treffen in München im Jahr 2008 zurück, aus dem das Netzwerk kritischer Migrationsforschung hervorging. Dieses wiederum lässt sich lesen als die Verbreiterung eines wesentlich kleineren Forschungszusammenhangs, der als Transit Migration schon wesentliche Fäden des Netzwerkes zusammenführte oder neu entwickelte. Das Programm liest sich einfach: es sollen die Kräfte gebündelt werden, die mit dem Mainstream der Migrationsforschung wenig anfangen können und dessen geflissentliche Anbiederung an staatliche und zwischenstaatliche Auftraggeber ablehnen. Aber nicht nur politisch, auch thematisch, methodisch und theoretisch sollen andere, kritische Zugänge gefunden werden.
Der Sammelband Grenzregime vermittelt einen guten Zwischenstand dieser „Bewegung“. Die Artikel der rund 20 Autorinnen und Autoren haben unterschiedliche Themen und Stoßrichtungen: Diskurse, Praktiken, Akteure und Institutionen der Migration und des „Migrationsregimes“ werden untersucht, und zwar bevorzugt an den Rändern Europas. Am Anfang des Bandes stehen Überblicke und erste Begriffsklärungen, es folgen exemplarische Studien zur Situation in Marokko, der Ukraine und Mittelamerika, dann geht es über zu nicht staatlichen Akteuren, die das Geschehen an den inneren und äußeren Grenzen organisieren, Frontex, UNHCR, die IOM oder das CIGEM, ein europäisches Pilotprojekt in Mali. Schließlich werden eine Reihe von Diskursen und Praktiken analysiert, zum Menschenhandel oder zur Rückkehr, bevor der Band mit Reflexionen zu Theorie und Methode seinen Abschluss findet. Einigen Artikeln ist anzumerken, dass sie eine Zwischenstation markieren, dass die Reise zwar schon eine Weile geht, aber noch nicht zu Ende ist. Ebenso wie sich das Feld europäischer Migrationssteuerung stark bewegt und verschiedenste Akteure teils konzertiert, teils in Konkurrenz und Konflikt voranschreiten, lassen sich auch in den Artikeln der kritischen Migrationsforschung Suchbewegungen erkennen, werden Zugänge, Vokabular, Theorien und Methoden prüfend abgewogen, bleiben manche Gedanken wie auf Probe. Das Bemühen konzentriert sich darauf, nicht nur politisch „linke“ Perspektiven aufzugreifen, sondern den kritischen Ansatz auch wissenschaftlich zu fundieren, und mit Methoden und Theorien eine „Perspektive der Migration“ zu entwickeln, die das Gefüge der Migration in den Blick nimmt und Migrantinnen und Migranten auch als Akteure, nicht als Opfer, wahrnimmt. Dem komplexen Gefüge der Migrationssteuerung, des „Regimes“, nähern sich die Autorinnen und Autoren mit viel Foucault, und, wo es um die Rolle des Staates geht, hauptsächlich mit Poulantzas. Doch auch wenn das Ziel der Forschungen die Machtzentren in Brüssel und Genf, Paris, Rom oder Berlin sind, die bevorzugte Annäherung erfolgt über die Ränder, über die Grenzen, mit ethnographischem Werkzeug. Nicht von oben herab, sondern vom Süden oder von der Seite werden Zugänge eröffnet.