Kaputte Frage, kaputte Antwort
Von Tom Reiss
Die nach wie vor beste Art, bescheuerten rhetorischen Fragen zu begegnen ist, sie einfach zu beantworten.
Kürzlich stand ich in der Früh an einer Bushaltestelle und wartete darauf, zur Arbeit gefahren zu werden. Wie vielen meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ist es mir Gewohnheit, die so oft damit verbundene Wartezeit mit der Begutachtung naher Zeitungskästen zu verbringen, um zu sehen, was der junge Tag so zu bieten hat. Groß war meine Bestürzung, grenzenlos meine Verwirrung, als ich im großen Schlagzeilenfeld der BILD mir folgende Frage stellen sah: Und zwar fragte mich der Kasten, wohl genauer die BILD-Redaktion, in Hinsicht auf den in der Publikation nachzulesenden „Scharia-Report“ (wohl eine regelmäßige Kolumne) etwas, worauf ich keine Antwort wusste und das mich in profunde innere Unruhe versetzte: „Wie viel Scharia,“ so BILD, „ist in Deutschland?“
Hätte ich behauptet, die Antwort zu kennen, so hätte ich gelogen. Ich wusste nicht, wie viel Scharia in Deutschland ist. Viel schlimmer – ich wusste auch nicht,
wie viel Scharia in Ordnung und wie viel zu viel ist! Sie nagte an mir, die Frage, drängte mich zur Antwort und verunsicherte mich ob meiner Unfähigkeit, diese zu liefern. Zuviel Scharia ist schlimm, so die Implikation – aber wenn ich nicht weiß, wie viel Scharia es an einem gegebenen Ort zu einer gegebenen Zeit hat, dann bin ich nicht nur rat- sondern auch machtlos, mir der Gefahr gänzlich unbewusst und unfähig, mich zur Wehr zu setzen.
Es versteht sich von selbst, dass meine Busfahrt voll ängstlicher Gedanken und die ersten paar Stunden meiner Arbeitszeit an Produktivität nicht zu denken war. „Wie viel Scharia ist in Deutschland?“, schoss es mir wieder und wieder durch den Kopf. Schließlich machte ich Pause, ging eine Zigarette rauchen und fasste endlich den Entschluss, Rat bei meiner Kollegin Başak zu suchen, einer Mitbürgerin türkischer Herkunft die – so meine Hoffnung – mit dem Thema vertrauter war als ich. So fragte ich auch sie: „Wie viel Scharia, liebe Başak, ist in Deutschland? Wie viel davon ist zu viel? Und wie erkenne ich, wie viel es ist?“