Ausgabe Nr. 38 | …girls and boys and…
„In 1000 Jahren gibt es keine Männer und Frauen mehr,
nur noch Wichser. Und ich finde das super.“
Mark Renton im Film Trainspotting
Liebe Leser*innen, liebe Boys, liebe Girls, liebe was-immer-euch-glücklich-macht …
Jede*r sollte doch eigentlich lieben, wen sie*er lieben will. Jede*r sollte doch eigentlich sein können, wer er*sie sein will. Das klingt so banal und ist doch so kompliziert. Sobald sich Staaten und Kulturen in die Privatsphäre der Menschen einmischen, wird es sogar gefährlich. Begehren wird mit Verfolgung quittiert, Abweichung mit Ausgrenzung. In weltweit 72 Staaten ist Homosexualität illegal, in noch mehr Ländern werden Homo- und Transsexuelle gesellschaftlich verfolgt oder sogar von ihren Familien ausgestoßen und bedroht.
Homosexualität ist in der EU als Fluchtgrund rechtlich gesichert, wird in der Praxis aber oft nicht akzeptiert, weil die Behörden den Geflüchteten nicht glauben oder die geflüchteten LGBTIQ*s aus nachvollziehbaren Gründen ihre Orientierung und Identität nicht preisgeben. In den Unterkünften, in die sie gepfercht werden, sind sie oftmals genau mit jenen homo- und transphoben Menschen konfrontiert, vor denen sie geflohen sind. In der vermeintlichen Sicherheit sind ihre Leben und ihre Gesundheit erneut bedroht. Und Hilfe ist nur spärlich vorhanden.
Einige Erfahrungen und Erlebnisse findet ihr im Heft. Antje Sanogo und Lena Kreck berichten über die Situation geflüchteter LGBTIQ*s in Berlin; Tanja und Krysty beschreiben in einem Comic die Gründe ihrer Flucht aus der Ukraine; G. H. erzählt von den Schikanen und Bedrohungen, die er als geflüchteter schwuler Mann bei seiner Ankunft in Deutschland erlebt hat. Doch es gibt auch Positives zu berichten. Die Gruppe Travestie für Deutschland stellt sich vielfältig und bunt gegen den erstarkenden Rechtsextremismus. Wir danken ihr und Steven P. Carnarius für das unglaublich geile Cover und die Anzeige auf unserer U3.
Wir wollten mit dieser Ausgabe eigentlich ein buntes Heft machen. So bunt wie es alle Facetten des Menschsein sein können. Doch die Wirklichkeit, doch die Reaktion der Gesellschaft auf das Bunte ist grau. Aber verzagt nicht, wir lieben euch alle.
Eure Schmetterlinge und Einhörner von der Hinterland-Redaktion
Queerplaining
Aus der Warte einer queeren Person of Color
In einem Dickicht verschiedener Selbstbezeichnungen beschreibt der Autor Naim Balıkavlayan im Folgenden auf persönlich-emotionale Weise, was Queersein für ihn* bedeutet und erläutert, was er sich für vielfältigere/vielheitlichere LSBT*IQ-Communities wünscht.
Ein weniger kurzes, aber dafür schmerzloses Statement: Ich bin kein großer Freund mehr von politischer Korrektheit – einer Korrektheit, die nach außen beinahe hochmütig wirkt, die auf den ersten Blick ausschließt, weil sie durch ihre Unzu- gänglichkeit „fremd“ klingt und unnötig stark theoretisiert. Weil sie schließlich und endlich für das Gros der Gesellschaft unverständlich erscheint und dann gerade diejenigen ausschließt, die unmittelbar von dem, was beschrieben wird, betroffen sind. Obwohl ich bisweilen dieserart Aversionen verspüre, bin ich, im Widerspruch zu dem vorher Geschriebenen, ein Verfechter einer Sprache, die (macht)sensibel ist. Auch mir mag es nicht immer gelingen, aber ich erwarte und wünsche mir, dass wir möglichst alle darum bemüht sind, mit Sprache nicht auszuschließen und die Realitäten von anderen Menschen in einer Form zu beschreiben, wie sie von eben den Betroffenen/Erfahrenen selbst verstanden werden möchte. Wenn sich der Einzelne anmaßt, eine Lebensrealität auf eine Art zu beschreiben, wie sie von dem Betroffenen nicht erlebt und gefühlt wird, dann kann Sprache sehr schnell relativierend, kompromittierend, gar diskriminierend werden. Komplex wird es, wenn die unterschiedlichen Betroffenen/Erfahrenen, mit ihren unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven die vermeintlich ein und dieselbe Lebenswirklichkeit auf eben unterschiedliche Weisen betrachten und beschreiben. Diese abstrakten, hingegen anspruchsvollen Gedanken hinsichtlich politischer Korrektheit haben einen Schnittpunkt – dieser liegt im Queersein.
Queer ist hip, ist omnipräsent, ist alles und irgendwie ein Nichts. Unfassbar, wenig konkret, sehr diffus (diffus zu sein ist ja eigentlich auch das originäre An- sinnen dieser Ausrichtung). Jedoch, Vorsicht, queer zu sein ist in geworden… und wahrscheinlich deshalb endlich auch in München angekommen. Auf einmal wirkt es, als würden sich alle, die sich mit Begrifflich- keiten wie Heter@, Lesbisch, Schwul, Trans*, Inter*, … nicht mehr allzu wohl fühlen, als Queer begreifen. Alle unter einem schrägen/queeren Dach. An und für sich eine gute Sache. Denn letztendlich würde der Begriff all diejenigen zusammenbringen, die aus der Norm der zweigeschlechtlichen Heterosexualität herausfallen. Jedoch, queer in München ist anders als das Queersein, das ich in Berlin „erlernte“ und anders als das „Queer“, von dem Judith Butler sprach. In meiner ersten Begegnung mit diesem Begriff, vor etwa sieben Jahren in Berlin, war es für mich ein neuer, „erleichternder“ Weg zur Selbsterkenntnis und –akzeptanz.
Einige der Leser*innen werden sich jetzt vermutlich denken: „Doch, *wtf*, was ist denn nun eigentlich hier und dort mit Queersein gemeint?“
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Security, Insecurity
Bayerns Geflüchtetenlager gelten als Vorbilder für die im Bund geplanten Ankerzentren; Einrichtungen, in denen Geflüchtete so lange festgehalten werden sollen, bis über ihren Status entschieden ist – bei einer Ablehnung des Asylantrags sollen sie aus diesen Ankerzentren heraus abgeschoben werden. Die bayerischen Lager Manching/Ingolstadt, Bamberg, Regensburg oder Deggendorf arbeiten nach diesem Modell, doch es gibt massive Kritik. Die schäbige Behandlung, die Vergabe von Sachleistungen, die schiere Größe der Lager, in denen 500 bis 1700 Flüchtlinge in einem Komplex untergebracht sind, sowie die Angst vor nächtlichen Abschiebungen sorgt für schlechte Stimmung unter den Flüchtlingen. Konflikte sind häufig und entzünden sich an Kleinigkeiten wie dem Schlange stehen in der Kantine oder bei der Ausgabe des Barbetrags, salopp Taschengeld genannt.
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The struggle of women across the sea
Das WatchTheMed Alarm Phone ist eine Telefon-Hotline für„Boat-People“ in Seenot auf dem Mittelmeer, täglich und rund um die Uhr erreichbar. In kleinen Teams besetzen etwa 150 Aktivist*innen rund um das Mittelmeer im Schichtsystem das Telefon und melden Notrufe an die zuständigen Küstenwachen. Das Alarmphone hat selbst keine Rettungsschiffe, übt aber Druck aus, bis eine Rettung ausgeführt wird und versucht, Menschenrechtsverletzungen wie Rückschiebungen – die sogenannten push-backs – zu verhindern, zu dokumentieren und öffentlich zu machen. Der folgende Text stammt aus dem 6-Wochen-Report vom März 2018.
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Bayern regiert!
Bayern regiert!
Zum Regierungsprogramm von Markus Söder
Am 19. April stellte der neue Ministerpräsident Bayerns, Markus Söder, sein Regierungsprogramm im Bayerischen Landtag vor. „Manager und Kümmerer“ Bayerns will Söder sein, und das Regierungsprogramm enthält ein wahres Füllhorn an Versprechungen, neben der Wiedereinführung des Kreuzes auch eine „bayerische Kavallerie“, eine bayerische Grenzpolizei, und ein eigenes, wenn auch unbemanntes, Raumfahrtpro- gramm. Spontan erreichte die Redaktion ein Schreiben aus Hessen, das für die hochfliegenden Söderschen Pläne unverhohleneBeweunderung zeigt.
Atemberaubend: Kosmopolitismus im Trachtenverein. Ich liebe die bayerischen Lufttaxis, die mit den Grenzschutzdrohnen um die Wette fliegen, und die angestrebte Geschwindigkeit von 1.000 km/h im Gütertransport. Zumindest deren Aufenthalt in Bayern wäre dann ganz kurz und a bisserl science fiction is schee. „Das bayerische Herz schlägt länger“ als Wahlspruch für Verbesserungen in der Kardiologie hängt dann dort an der Wand, neben dem Kreuz als Basiswertebezug. Als Patient ist das besser als eine Lebensversicherung. Die Bayern-Cloud weiß-blau ist auch mitreißend, das bayerische Raumfahrtprogramm noch mehr. Für bayerische Gemütlichkeit als Exportschlager scheint mir die Vergnügungssteuerpflichtigkeit noch nicht geklärt, die ja für das Ausland durchgesetzt werden müsste. Nach der Ausländermaut scheint mir eine Auslandsglücksmaut zwingend. Auch das Schicksal des umweltfreundlichen Bayern-Sprits kann niemanden kalt lassen. Die Besinnung aufs heimische Öl: Das Gute liegt nah. Die bayerische Kavallerie ist die ultimative Versöhnung des Autos mit dem Pferd, dass ja heute schon im Plural unter der Motorhaube schuftet.
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Parallele Welten
Die Grenzen Europas werden zunehmend feindselig. Längst ist die Freizügigkeit im Schengen-Raum eingeschränkt durch den Versuch, Geflüchtete nicht über die Grenzen zu lassen. Geflüchtete finden deshalb immer neue Wege. Wie rings ums Mittelmeer zeigt sich auch mitten in Europa: Die neuen Routen, auf die Geflüchtete ausweichen müssen, werden gefährlicher. Im Wintersportgebiet Bardonecchia im italienischen Piemont riskieren Geflüchtete ihr Leben.
Was im Behördenjargon ‚integriertes Grenzmanagement‘ genannt wird, ist eine komplizierte Angelegenheit. Grenzen vervielfältigen sich, bilden Grenzräume, Kontrollen sind den Grenzen vor- oder nachgelagert, aber zugleich werden auch Zäune, Mauern, Gräben gezogen. Hotspots und Transitlager werden eingerichtet, um Geflüchtete festzuhalten. All dies geschieht mit dem einen Ziel: Eine Zuwanderung von Geflüchteten nach Europa und auch ihre Mobilität innerhalb Europas möglichst zu erschweren. Seit dem ,Sommer der Migration‘ im Jahr 2015 wurden die Bestrebungen intensiviert.
Ein weiteres Kapitel dieser Geschichte spielt sich näher am Zentrum Europas ab, als wohl viele denken: im italienischen Bergdorf Bardonecchia, einem berühmten Ski- und Wintersportzentrum, nicht weit von Turin in Norditalien. Nachdem Frankreich die Grenzübergänge weiter südlich in den Seealpen scharf bewacht, versuchen Geflüchtete hier über schneebedeckte Bergpässe nach Frankreich zu gelangen. Die Gefahren sind vielfältig: Unterkühlung und Lawinen drohen, und das Risiko, in Nacht und Schnee den Weg zu verlieren ist gerade für Menschen mit wenig Erfahrung am Berg groß. In der grandiosen Berglandschaft des Piemont spielen sich Dramen ab.
Seit einem guten halben Jahr versucht die italienische NGO Rainbow4Africa Geflüchteten zu helfen, die am Bahnhof von Bardonecchia gestrandet sind. Die Mit- arbeiter*innen der NGO können die Geflüchteten gerade mit dem Nötigsten versorgen: warmes Essen, ein Schlafplatz während stürmischer und kalter Winte- rnächte, medizinischen Beistand und Erste Hilfe, warme Kleidung. Eigentlich betreibt die NGO ein Seenotrettungsschiff auf dem Mittelmeer. In Bardonecchia versucht sie einen Überblick zu behalten, wie viele Geflüchtete versuchen die Berge zu überqueren. Jede medizinische Behandlung durch die Ärzt*innen vor Ort wird dokumentiert. Ohne das notwendige Wissen über die Berge haben sich bereits zahlreiche tragische Schicksale abgespielt. Giovanna, als Ärztin ehrenamtlich für Rainbow4Africa in Bardonecchia tätig, fasst die Situation so zusammen:
„Geflüchtete kommen ohne Vorbereitung und Kleidung, aber sie wissen den Weg. Mit diesem grausamen Wetter ist es unmöglich. Wir versuchen die Gefahren der Berge zu erklären und wie man überlebt. Ich sehe zwei parallele Welten: Manche Einheimische helfen und arbeiten mit uns, doch das Leben der Touristen geht unbehelligt weiter … Alles in allem kümmern sie sich nicht um das Schicksal der Geflüchteten hier in Bardonecchia.“
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Diese Ausgabe wurde gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung