Ausgabe Nr. 30 | was geht

Liebe Leute,

es hängt ganz davon ab, wen man fragt: zu viele Flüchtlinge – noch lange nicht genug Flüchtlinge, die Grenzen sind zu offen – die Grenzen sind nicht offen genug, schuld ist der Krieg, die Wirtschaft, die Politik, die Religion, die Schleuserbanden, schuld ist Griechenland, die Türkei, Ungarn, Österreich. Deutschland ist auch schuld, aber mal die Zivilgesellschaft, Wutbürger, Gutbürgerinnen, Packbürger, die Bürokratie, Merkel, Seehofer, Herrmann, Petry, Gabriel.

Es war tatsächlich ein heißer Herbst. Umso leichter, den Überblick zu verlieren. In Zeiten, in denen mit Thomas de Maizière ein waschechter, buchstäblicher Verunsicherungsminister für ordentliche Verwirrung von oben herab sorgt, hallt aus den Untiefen der Hinterland-Redaktion die Frage: „Was geht?!“ Was passiert zurzeit jenseits reißerischer Schlagzeilen, ideologischer Grabenkämpfe und ministeriell verordneter Unsicherheit? Was tut sich auf den Fluchtrouten, in den Herkunftsländern, im Bundestag, in der Fluchthilfe? Was – bei aller Liebe für hitzige Debatten – geht gar nicht?
„Was geht?!“, haben wir uns also gefragt und hier sind die Antworten. Was in Österreich in Hinsicht auf Flucht und Fluchthilfe geht, verrät uns Niko Schreiter. Ulla Jelpke gibt uns einen Lagebericht aus dem Bundestag und einen Blick in die Details aktueller Asylgesetzgebung. Überall versuchen Menschen, sich Schlaues einfallen zu lassen, um zu helfen – wir haben mit einigen gesprochen. Was schon ging, ist die 2. Internationale Schlepper- und Schleusertagung in München – wie’s gelaufen ist, erfahrt ihr hier. Und um den Wald vor lauter Bäumen nicht zu vergessen, halten wir das Ohr auch dicht an die Ereignisse im NSU-Prozess. Fritz Burschel versorgt uns mit dem Neuesten.

Damit solltet Ihr vorerst mit Lektüre für den Wintereinbruch versorgt sein – und vielleicht mit ein bisschen Information und Inspiration. Dass a bisserl was immer geht, wünscht euch zuversichtlich

Die Hinterland-Redaktion

Österreich schiebt weiter

Seit die Zahl der Flüchtlinge nach Europa steigt, hat sich auch in Österreich einiges geändert: Das Bundesheer fährt flüchtende Menschen gratis zur deutschen Grenze und Freiwillige helfen bei der Notversorgung. Im Asylwesen aber hat es keine Besserungen gegeben und das, was als Versuch verkauft wird, politisch mit der Situation umzugehen, bringt höchstens nichts – am allerwenigsten für die Menschen auf der Flucht. Ein Bericht über die komplexe Situation in Österreich.

Viele der Menschen, die über Ungarn nach Österreich kamen und jetzt über Slowenien kommen, wollen hier nicht bleiben. Die meisten wollen weiter, viele nach Deutschland, einige auch in andere Länder. Wie viele wirklich österreichischen Boden betreten, ist ungesichert. Wie FM4.orf.at schreibt, werden nach Auskunft des Innenministeriums Refugees, die in Österreich keinen Asylantrag stellen, „abhängig von den behördlichen Kapazitäten und nach Maßgabe der Verhältnisse“ registriert. Von den 276.428 Menschen, die zwischen 5. September und 14. Oktober in Österreich erfasst wurden, haben nur 10.553 einen Asylantrag gestellt. Knappe vier Prozent.

Die Menschen, die einen Asylantrag stellen, haben Anspruch auf Grundversorgung durch den Staat: In Quartieren mit Vollverpflegung bekommt der Quartiersgeber pauschal 19 Euro pro Tag. Bei Selbstverpflegung bekommen die Asylbewerber und Asylbewerberinnen 150 Euro pro Monat, Krankenversicherung und dazu jeweils 40 Euro monatlich Taschengeld. Normalerweise wird, wer in Österreich einen Asylantrag stellt, in einer der beiden Erstaufnahmestellen untergebracht: EAST Ost in Traiskirchen in der Nähe von Wien, oder EAST West in Thalham in der Nähe des Attasees. Normalerweise, denn insbesondere Traiskirchen ist seit Monaten in den Negativschlagzeilen. Seit Anfang August wurde dort immer wieder ein Aufnahmestopp verhängt. In der Einrichtung, die für etwa 1800 Personen ausgelegt ist, waren über den Sommer zeitweise über 4000 Asylwerber und Asylwerberinnen untergebracht.

Obdachlos statt grundversorgt

Die Zustände in Traiskirchen sind schon unter Normalbedingungen menschenfeindlich: Es herrschen rigide Lagerregeln, es fehlt an Betreuung und man hört immer wieder Berichte über rassistisches Verhalten von Bediensteten. Das sind, neben den Sachbearbeitern und Sachbearbeiterinnen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA), vor allem Wachleute und einige wenige Beschäftigte der Rechts- und Sozialberatungen der Diakonie. Außerdem arbeitet dort der Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ), eine vom Innenministerium finanzierte NGO, die für einen großen Teil der Asylsuchenden die ihnen zustehende Rechtsberatung und -vertretung durchführt. Häufig aber macht der VMÖ in erster Linie „Rückkehrberatung“ und lässt vielfach Rechtsmittel ungenutzt.

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„Zigeunerlager“

Der Schauspieler und Schriftsteller Sepp Bierbichler kritisiert bei seinem „Überraschungs-Auftritt“ auf der Kundgebung gegen die Erichtung von Romalagern in Bayern am 27. Juli 2015 auf dem Münchner Max-Josef Platz die scharfzüngige Rhetorik der CSU in der Flüchtlingspolitik. Hier der Wortlaut seiner Rede…

Tausende aus unserm Land sind vor zwei Generationen vor staatlichem Terror ins Ausland geflohen, um ihr Leben zu retten, und Millionen, denen diese Flucht nicht mehr gelungen ist, sind durch ihre Ermordung gezwungenermaßen zum Stachel der Erinnerung im Erbfleisch der Nachgeborenen geworden – und haben damit posthum und ungefragt die Erziehung der Sprösslinge ihrer Mörder zu möglicherweise sozial agierenden Menschen übertragen bekommen. Diese Nachgeborenen sehen sich gerade zum ersten Mal wirklich vor die Probe aufs Exempel gestellt: Tausende begehren Aufnahme in dieses Land, ihrerseits auf der Flucht vor Krieg und staatlichem Terror in ihren Ländern. Die theoretische Erziehung will praktisch umgesetzt werden. Das erzeugt Stress. Die Probe heißt: Hat der Stachel im Fleisch der Erinnerung bei den Sprösslingen Früchte getragen?

Knapp und ohne Sentimentalität hat Walter Benjamin dieses Erinnern formuliert, bevor er sich, aus Angst vor der Auslieferung an die Mörder, in den Freitod geflüchtet hat: „Vergangenes historisch artikulieren heißt (…), sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“

Einer kürzlich erfolgten Umfrage nach haben sich 52 Prozent der Deutschen für weitere Hilfeleistungen für Flüchtlinge ausgesprochen. Das deutet darauf hin, dass die posthume Erziehung durch die Ermordeten bei den Nachkommen der Mörder Früchte zu tragen beginnt.
In dieser Situation, die ohne Zweifel zugespitzt ist, denn es gibt auch Flüchtlinge, die aus rein materieller Not flüchten – (hier sei angemerkt: Wer täte das nicht, der in solche Not gerät? Es handelt sich hier um einen Überlebenstrieb. Das lässt sich bei dem vom System erwünschten Trieb der Gewinnmaxi- mierung weniger selbstverständlich behaupten) – da also auch Flüchtlinge, die wirtschaftlicher Not entgehen wollen, in Bayern ankommen, kann es möglich sein, dass bei der Unterbringung Prioritäten im Verhältnis zu den Flüchtlingen aus Kriegsgebieten gesetzt werden müssen.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Derweil im Bundestag

Die Bundesregierung wühlt in der Mottenkiste der Asylgesetzgebung.

Worum geht’s?

Das Thema Flüchtlinge ist im Jahr 2015 so präsent wie kaum ein anderes. In den Medien, in der Politik und auch im gesellschaftlichen Diskurs geht es um Fluchtrouten, Schleuserkriminalität und die Aufnahme und Versorgung Asylsuchender. An der Frage des Umgangs mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ scheiden sich die Geister. Neben den voraussehbaren Spannungen zwischen den Koalitionsparteien brodelt es mittlerweile auch heftig innerhalb der Union.

Nach der Bleiberechtsnovelle im Juli 2015, welche die uferlose Ausdehnung der Abschiebehaft mit sich brachte, stand im Oktober 2015 bereits die nächste Asylrechtsverschärfung auf dem parlamentarischen Programm. Diese treibt die diskriminierende, pauschale Kategorisierung von Schutzsuchenden in vermeintlich „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge weiter voran. Neben verfassungswidrigen Leistungskürzungen und unangekündigten Abschiebungen ist nun auch die monatelange Kasernierung von Asylsuchenden in Erstaufnahmelagern inklusive Residenzpflicht und Arbeitsverbot vorgesehen. Und es wird nicht die letzte Verschärfung im Bereich des Asylrechts gewe- sen sein. Auch die längst überfällige Umsetzung der EU-Asylverfahrensrichtlinie und der EU-Aufnahmerichtlinie soll für weitere harte Einschnitte – Stichwort Transitzonen – genutzt werden.

Was ging?

Dass in diesem Jahr erheblich mehr Schutzsuchende nach Europa und Deutschland kommen würden, war bereits seit längerem abzusehen. Und dennoch reagierten die politisch Verantwortlichen zunächst verhalten, um nicht zu sagen: gar nicht. „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ – das war die Devise. Wie schon im Oktober 2013, als vor Lampedusa knapp 400 Flüchtlinge ums Leben kamen, fielen auch nach dem tragischen Schiffsunglück im April 2015, mit über 700 Toten, wieder betroffene Worte. Jedoch folgten ihnen keine Taten, wie zum Beispiel der Aufbau einer effektiven EU-Seenotrettung in ziviler Hand. Statt Flüchtlinge zu schützen und ihre menschenwürdige Aufnahme und Versorgung zu ermöglichen, setzte man sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene weiterhin stur auf Abschottung und Abwehr. Flüchtlingshilfe erfolgte nur als Flickschusterei und Beiwerk zu Grenzsicherungsmaßnahmen und Militäraktionen gegen Schleuser.

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Hinterland Magazin 30

Torschlusspanik…banges Hoffen auf einem Platz im Zug am Bahnsteig von Tovarnik. Foto: Kaveh Rostamkhani