Ausgabe Nr. 43 | kriminalisierung
„Und was werdet ihr tun, wenn sie Mauern aufbauen?
Zusehen – betroffen sein – und wegschauen? […]
Ob sie das Grundgesetz ändern, ist euch völlig egal,
diese Feigheit hat ‘nen Namen: ‚linksliberal‘“
But Alive (die Punkband von dem Typen von Kettcar)
Liebe Kriminalisierte, liebe Leser*innen,
passt bloß auf, sonst seid ihr ganz schnell kriminell. Zumindest in den Augen von Polizei, Behörden und Ämtern. Natürlich leben wir in Europa noch lange nicht in einer totalitären Diktatur, wie es manche Fans von Verschwörungstheorien und Anhänger*in- nen der AfD phantasieren und dabei immer wieder Vergleiche zu George Orwells Klassiker „1984“ ziehen. Diese Leute kriminalisieren die Demokratie zu Unrecht, um ihre eigene wirre und menschenfeindliche Ideologie zu verharmlosen. Doch leider hat aber auch eben die bürgerliche Demokratie schon immer bestimmte Gruppen ausgeschlossen, hat bestimmtes Verhalten kriminalisiert, um die Bevölkerung einzuschüchtern.
Und mit Erstarken rechtspopulistischer, ja rechtsradikaler Kräfte in ganz Europa – und nicht nur dort – werden immer mehr Gruppen von Menschen kriminalisiert. Sei es aus der Naivität heraus, mit der Übernahme der rechtsradikalen Agenda die Rechtsradikalen eindämmen zu können, sei es aus national-kapitalistischen Zwängen, um den Wirtschaftsstandort zu optimieren, sei es aus einem allgemeinen kulturellen Backlash heraus, weil die moderne Zeit so kompliziert ist und die alte scheinbare Sicherheit verspricht. Manchmal aber einfach auch nur aus Sexismus, Rassismus oder Homophobie heraus.
Frauen werden kriminalisiert, Homosexuelle, Transsexuelle, Menschen ohne Arbeit, Menschen, die die falsche Hautfarbe, die falsche Herkunft oder die falschen Papiere haben – nicht für etwas, das sie getan haben, sondern für das, was sie sind.
Menschen, die Hartz IV erhalten, aber nicht jeden ausbeuterischen Scheißjob annehmen wollen, werden sanktioniert. EU-Bürger*innen, die nach Deutschland kommen, um einen dieser prekären Scheißjobs zu machen, werden diskriminiert, werden von Sozialleistungen ausgeschlossen. Ihnen wird die in der EU übliche Freizügigkeit nicht gewährt. Und wenn sie durchs soziale Raster fallen und auf der Straße landen, werden sie als „Bettelmafia“ diffamiert. Was nicht ins Bild passt, wird kriminalisiert.
Frauen, die selbstbestimmt entscheiden wollen, was mit ihrem Körper passieren soll, werden als Mörderinnen beschimpft. In manchen islamischen Ländern werden Frauen eingesperrt oder Schlimmeres, wenn sie kein Kopftuch tragen, in manchen westlichen Ländern werden sie angegriffen, wenn sie eines tragen. Was nicht ins Bild passt, wird kriminalisiert.
Menschen, die keine weiße Haut haben, werden regelmäßig von der Polizei aufgehalten, kontrolliert und schikaniert – denn People of Colour dealen ja mindestens mit Drogen, wenn sie nicht gar Terrorist*innen sind. Alle. Immer. Weil das ja so ist. Obwohl dieses sogenannte racial profiling inzwischen als gesetzeswidrig eingestuft wurde, ist es immer noch gang und gäbe in der polizeilichen Praxis. Das neue „Hau-ab-Gesetz“ kriminalisiert nicht nur Geflüchtete wegen Kleinigkeiten, sondern auch deren Unterstützer*innen. Während der Staat Geflüchtete in Länder wie Afghanistan und damit oftmals in den sicheren Tod abschiebt, müssen diejenigen, die sich dagegen wehren oder die dies zu verhindern suchen, mit Strafen rechnen. Wer Menschen vor dem Ertrinken rettet, muss das Gefängnis fürchten. Was nicht ins Bild passt, wird kriminalisiert.
Es scheint fast so, als sei alles kriminell, was den Versuch unternimmt, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen oder die falschen Verhältnisse und die Barbarei über den Haufen werfen zu wollen. Kommt, lasst uns alle kriminell sein!
Eure (Klein-)Kriminellen von der Hinterland-Redaktion