Ausgabe Nr. 44 | behinderung
Liebe Leser*innen,
bei der Para-Leichtathletikweltmeisterschaft Anfang November ist der an beiden Unterschenkeln amputierte Sprinter Johannes Floors 100 Meter in 10,60 Sekunden gelaufen. Das durchschnittliche Hinterland-Redaktionsmitglied benötigt für dieselbe Distanz ungefähr zwischen zwei Minuten und einem Taxi. Ludwig van Beethoven hat, als er bereits taub war, die besten Musikstücke der Geschichte komponiert; Stephen Hawking mag zwar im Rollstuhl gesessen und nur mittels eines Computers kommuniziert haben können, überflügelte als Physiker aber den Rest der gesamten Menschheit. Wenn hier jemand eine Behinderung hat, dann wir angeblich Normalen.
Doch das waren nur die herausragendsten Beispiele. Auch abseits von Genie und großem Talent kann jeder Mensch etwas, was sonst niemand kann. Auch abseits von Genie und Talent ist jeder Mensch einfach etwas Wertvolles und Besonderes. Ob mit Behinderung oder ohne. Und dann bleibt die Frage: Was ist überhaupt eine Behinderung? Wo beginnt sie? Was bestimmt sie? Sind es physische, psychische oder kognitive Einschränkungen, die eine Behinderung ausmachen? Oder sind es nicht vielmehr die äußeren Verhältnisse, die Menschen darin behindern, vollständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können? Das Problem ist doch zum Beispiel nicht der Rollstuhl, sondern der U-Bahnhof ohne Aufzug. Das Problem ist doch eine Gesellschaft, in der Menschen mit Trisomie 21 nicht zugetraut wird, mehr zu können als nur Schrauben zu sortieren.
Wer bestimmt, was behindert ist und was normal? Die Medizin, die Gesellschaft oder die Betroffenen? Oder bestimmt es erst der Behindertenausweis? Ist überhaupt irgendjemand normal? Und will überhaupt jemand normal sein?
Das Thema Behinderung verunsichert viele Menschen. Also eben diejenigen, die nicht betroffen sind. Sie wissen nicht, wie sie mit Behinderung umgehen sollen. Und sie verharren bestenfalls irgendwo zwischen unnötigem Mitleid und kompletter Unwissenheit – wenn sie nicht sogar abfällige Gedanken hegen. Oder diese Gedanken gar nach außen hin artikulieren: wenn sie Menschen mit Behinderung beleidigen, diskriminieren oder sogar wegsperren wollen. Manchmal reagieren sie auch mit falscher Hilfsbereitschaft. Die einen tragen dann einen Rollstuhlfahrer scheinbar selbstlos die Treppen hoch, obwohl er gar nicht nach oben wollte. Die nächsten reden extra laut mit einer Blinden.
Die ungefragt gegebene Hilfe kann manchmal diskriminierender sein als eine offene Beleidigung, denn sie nimmt den Menschen den letzten Rest Selbstständigkeit. Kaum jemand fragt die behinderten Menschen selber, wie sie behandelt werden wollen, was sie wollen, wann sie Hilfe wünschen und wie diese Hilfe aussehen könnte. Und wie Menschen mit Behinderung die Welt wahrneh- men und was die angeblich Normalen von ihnen lernen könnten, fragt sowieso niemand. Dabei könnten wir gegenseitig so viel voneinander lernen.
Und wieso denken beim Thema Behinderung erstmal alle nur an Blinde, an das Down-Syndrom oder an Rollstuhlfahrer*innen? Oder an Behindertenparkplätze?
Und für geflüchtete Menschen mit Behinderung multipli- zieren sich all die Probleme nochmal um ein Vielfaches. Seit August 2018 werden alle in Bayern neu ankommenden Geflüchteten in den sogenannten ANKER-Zentren untergebracht – diese sind weder menschenwürdig, noch barrierefrei. Weder für Menschen im Rollstuhl, noch für Seh- oder Hörbehinderte. Es gibt keine Betreuung für Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Traumata. Es gibt keine Rückzugsräume und keinen Schutz vor Übergriffen. Und selbst schwerste Behinderungen schützen nicht vor Abschiebung – vor Abschiebung in Länder in denen Krieg herrscht, in denen die Angehörigen verstorben oder geflohen sind und in denen den Abgeschobenen der sichere Tod droht.
Menschen mit Behinderung werden oftmals nicht als gleichberechtigt angesehen, sie werden als Bittsteller betrachtet, werden nur als Kostenfaktor oder Last für die Allgemeinheit angesehen. Egal, ob geflüchtet oder nicht. Da unterscheidet sich das kapitalistische Ideal kaum vom faschistischen – nur, was einen scheinbaren Nutzen für den Volkskörper oder, wie heute, für die Volkswirtschaft bringt, wird akzeptiert. Doch jeder Mensch hat das Recht auf ein würdevolles und gleichberechtigtes Leben. Das ist so trivial und muss doch immer wieder aufs Neue erwähnt werden.
Behinderung ist normal, Behinderung ist alltäglich, Behinderung ist menschlich. Für geflüchtete wie für nicht-geflüchtete Menschen. Die Verhältnisse sind es, die behindern. Lasst uns also die Verhältnisse ändern, nicht die Menschen.
Eure nicht normalen Freund*innen von der Be-Hinderland Redaktion