Ausgabe Nr. 47 | systemrelevant
Liebe Relevanten und Irrelevanten, liebe Leser*innen,
wie zu erwarten war, ist die Corona-Pandemie im Sommer nicht plötzlich verschwunden, und es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass die Zahlen hierzulande im Herbst und Winter wieder angestiegen sind. Doch die Bundesrepublik nimmt sich irrigerweise immer noch als Musterschülerin der Pandemiebekämpfung wahr – in klassischer deutscher Arroganz. So wie sie sich schon 2015 selbst als Hort der Humanität hochgelobt hat, nur weil sie das menschlich Mindestnotwendige getan und ihre Grenzen nicht geschlossen hatte. In Anbetracht der Verhältnisse, unter denen die hier Angekommenen heute leben müssen, ist es mit dem Humanismus nicht weit her. Aber Deutschland kann sich ja ganz gut verkaufen, wenn es die Welt einmal nicht in den Abgrund stürzt.
Und wie bei der Aufnahme Geflüchteter, so gibt es auch in der Pandemiebekämpfung Länder, die das wesentlich besser machen. Einige mit einer solidarischen Bevölkerung, manch andere, wie China, auch mit autoritären Maßnahmen. Währenddessen fabulieren hier verwirrte Verschwörungsgläubige, esoterische Extremist*innen, Reichsbürger*innen und Rechtsradikale von Diktatur, Faschismus oder gar von einer lange geplanten, geheimen Weltverschwörung unter der Ägide von Christian Drosten, wenn sie zum Schutze der Gesundheit und des Lebens anderer Menschen einmal in der U-Bahn für zehn Minuten eine Maske tragen müssen. Verschwörungserzählungen und antisemitische Tropen haben wieder Hochkonjunktur. Die Polizei überlässt den rechten und esoterischen Corona-Leugner*innen die Straßen, Medien schenken ihnen Sendezeit. Der Wahn scheint zu triumphieren und die Vernunft verdrängt zu werden.
Andere wiederum beklagen, dass sie nicht mehr feiern und nach 22 Uhr kein Bier mehr trinken dürfen, ja, dass sie gar einmal eine Zeit lang zuhause bleiben sollen. Medien und Politik finden in diesen Feiersüchtigen natürlich auch gleich die Schuldigen für neue Infektionsketten. Gleichzeitig müssen aber, unbeachtet von der Öffentlichkeit, die Angestellten in Krankenhäusern und Pflegeheimen, Logistikunternehmen oder Werkshallen trotz eigentlich verordneter Quarantäne oftmals weiterarbeiten, wenn sie Kontakt zu Infizierten hatten. Hygienevorschriften werden an Arbeitsplätzen nicht ein- gehalten. Die Räder müssen schließlich rollen. Wurde beim ersten Lockdown noch das Leben der Menschen über die wirtschaftlichen Interessen des Kapitals gestellt, so nimmt nun der Schutz der Wirtschaft einen höheren Stellenwert ein als der Infektionsschutz. Die privaten Kontakte sollen verringert werden, die in der Arbeit jedoch nicht immer.
Und die in ihrer Existenz von der Krise besonders Getroffenen, etwa in der Gastronomie und Veranstaltungsbranche, wie Kunst und Kultur, müssen um ihr Überleben kämpfen. Und die in der Krise Geforderten, wie Pflegepersonal und Paketlieferfahrer*innen, müssen ihre Gesundheit oder ihr Leben riskieren. Und nicht einmal mehr eine Schachtel Merci oder Applaus am Fenster gibt es inzwischen noch für vormals als systemrelevant gepriesene Berufe. Von den großen Tönen und den kleinen Gesten ist fast nichts mehr übrig. Und noch mehr als die Ausgebeuteten scheinen Geflüchtete in Unterkünften in Deutschland oder in Lagern auf griechischen Inseln für dieses System keine Relevanz zu haben. Ihr Schicksal ist den Nachrichten nur noch eine Randnotiz wert.
Dieses Heft möchte nun fragen, was denn relevant ist in diesem System, in diesem falschen Ganzen, möchte fragen, wo das System die eigentlich Relevanten vergessen hat. Wie steht es mit der Relevanz von Geflüchteten, von Sexarbeiter*innen, von queeren Räumen und von Kultureinrichtungen? Denn eines ist ein Grundtenor bei all den Texten dieser Ausgabe: Die Betroffenen wurden kaum gehört und selten gefragt, sämtliche staatlichen Entscheidungen und Regelungen gingen an ihrer Lebensrealität vorbei – sie waren wohl nicht systemrelevant.
Hört nicht auf das System zu hinterfragen.
Eure Systemelefanten aus der Hinterland-Redaktion