Klippenbekenntnisse

Von Phil Zéro

Eine kleine Fallstudie zum subjektiven Sicherheitsempfinden

162 Meter geht es senkrecht nach unten. Beachy Head ist die höchste der in der Sonne gleißenden Klippen Südenglands, ein weißer Kalkriese, den man auch ohne royalistische Anwandlungen mit Sicherheit als majestätisch über dem Ärmelkanal thronend bezeichnen darf. Niemand, der nicht selbst völlig verkalkt ist, so möchte man meinen, träte zu nahe an die fulminante Fallhöhe, um die Einzigartigkeit des dortigen Naturerlebnisses (glaubensabhängig) mit einem verfrühten Stelldichein bei seinem oder ihrem Schöpfer zu krönen bzw. im Falle weltlicherer Attitüde urplötzlich den ganz persönlichen Brexitus zu er- und sich selbst dabei zu entleben. Hier können Achtlose noch so real vom Rand fallen, dass die Priester der Scheibenwelt ihre helle Freude daran hätten. Dabei handelt es sich nach dem Ermessen der Vernunft dennoch nicht um einen unsicheren Ort.

Aber mit der Sicherheit im
Wandel der (Ge-)Zeiten ist
das nun mal so eine Sache. Unser heutiges Wort Sicherheit stammt aus dem Lateinischen und setzt sich aus „sed“ und „cura“ zusammen, also wörtlich ein Zustand „in dem sich nicht gekümmert wird“. Die Uminterpretation von „unbekümmerter Sorglosigkeit“ zu „selbstverantwortlicher Gefahrenminderung“ ist jedoch unbedingt ratsam, wenn der Pfad der persönlichen Erleuchtung nicht in einen jähen Abgrund führen soll. Der Dramatiker und Lyriker Christian Friedrich Hebbel notierte im Jahre 1838 in sein Münchner Tagebuch „Sitzen bleiben allerdings schützt gegen die Gefahr, zu fallen“, doch man sollte ihm diesbezüglich keinesfalls Glauben schenken.

Wenn der Sensenmann das Sandwich schmiert

So ist etwa eine Wanderung auf den Klippen von Englands jüngstem Naturschutzgebiet, den South Downs, ein nicht nur geologisch erhebendes Plaisir, das keinesfalls durch ein Picknick an der falschen Stelle zum ultimativ einmaligen Erlebnis geraten sollte. Mit unschöner Regelmäßigkeit lassen sich neben vom Winde zu knorrigen grünen Kobolden verformten Bäumen und schier endlosen elysischen Wiesen, beweidet von scharfsinnigen Schafen – die den nahen Abgrund wiederkäuend meiden –, auch immer wieder Wandergruppen beobachten, denen ihre Wiederkehr zur Pension augenscheinlich weit weniger am Herzen liegt als den Schafen die ihres Mageninhaltes. Befreit von jeder Selbstverantwortung scheint die Brotzeit manchen am besten zu munden, wenn der Sensenmann das Sandwich schmiert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass man sich liebend gern mit der Wegzehrung 30 Zentimeter von der Kante auf den letzten Büscheln der Grasnarbe einer stark erosionsgefährdeten Klippe zur Stärkung niederlässt, um ein Maximum aus dem Naturschauspiel herauszuholen.

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