Sprachmauern
Von Tom Reiss
Sprachmauern
Über die sozialen und politischen Folgen der deutschen Übersetzungspraxis.
Übersetzen ist immer eine schwierige Angelegenheit, hauptsächlich deshalb, weil die Sprache, die wir sprechen, und die Wirklichkeit, in der wir leben, so sehr voneinander abhängig sind. Es ist ein erkenntnistheoretisches Kopfschmerzrätsel, sich abstrakt zu überlegen, wie eine Farbe aussieht, von der man nur den Namen kennt – nichtsdestoweniger hat jede Sprache ihre eigenen Wörter für – so scheint es – ihre eigenen Farben. Deutschsprachigen Leserinnen und Lesern dieses Artikels mag die Farbe und das Wort „grün“ selbstverständlich und banal erscheinen; in der bretonischen Sprache hingegen existiert keine Entsprechung dazu. Grünzeug ist hier entweder „glaz“ (blau) oder „melenn“ (gelb). Im Irischen gibt es zwar ein Wort für grün („glas“), aber dafür gibt es hier ein ganz anderes Problem: Im Irischen ist zwar eine grüne Wiese „glas“, aber auch die grauen Schafe, die auf ihr grasen.
Und wenn schon so Grundlegendes wie Farben zu kaum überwindbaren Übersetzungsproblemen führt, kann es niemanden überraschen, dass die Übersetzung von komplexeren Sachverhalten – Erzählungen, Filme, Witze, etc. – noch ungemütlichere Schwierigkeiten bereitet. Demzufolge darf von Übersetzungen, egal in welchem Bereich, keine Perfektion erwartet werden, weil diese schlicht nicht möglich ist. Übersetzungen werden immer fehlerhaft sein und in ihren Fehlern auf die Einzigartigkeiten der beteiligten Sprachen hinweisen, selbst wenn die Übersetzenden sich die größte Mühe geben. Dass letztere dies nur zu oft nicht tun oder tun können, ist an sich auch noch kein Weltuntergang. Da Sprache allgegenwärtig ist, kommt es bei der Übersetzung eben nicht nur auf das Wissen und die Fähigkeiten des Übersetzers oder der Übersetzerin an, sondern auch auf die sozialen, kulturellen und ökonomischen Umstände, unter denen er oder sie arbeitet. Bekannte Bizarrheiten wären zum Beispiel die vor allem in Osteuropa beliebte Eigenart, Filme mit einer Synchronspur zu versehen, die nicht statt des Originaltons läuft, sondern zusätzlich dazu; oder die geographische und kulturelle Abschottung vieler US-Bürgerinnen und Bürger, die es unmöglich macht, auch nur Fetzen des Nicht-Englischen ins Gespräch zu bringen; oder auch die scheinbare französische Nostalgie, für die ihre eigene Sprache nach wie vor jene „lingua franca“ ist, die sie im vorvorherigen Jahrhundert war und die oft zur Weigerung führt, hin und wieder ein wenig sprachliches Entgegenkommen zu zeigen. An diesen Beispielen zeigt sich, dass die Arbeit des Übersetzens ebenso von soziokulturellen Besonderheiten wie von pragmatischen Problemen sowie Stereotypen und Verklärungen erschwert wird.
All das sind Kleinigkeiten, oft sympathisch, manchmal ärgerlich, prinzipiell unvermeidlich. Es mag also unangebracht wirken, sich über die deutsche Übersetzungspraktik zu beschweren. Ich behaupte trotzdem, dass allen grundlegenden Schwierigkeiten zum Trotz, denen Übersetzungen sich immer und überall stellen werden müssen, es in kaum einem Land schlimmer um das Übersetzungswesen steht als in Deutschland.