Ein Knoten im Taschentuch
Von Alena Thiem
Ein Knoten im Taschentuch
Wie Sprachkritikerinnen und -kritiker offen legten, ist die nationalsozialistische Sprache genauso unmenschlich gewesen wie die Gesinnung selbst. Wie unreflektiert wird heute noch mit Sprache umgegangen – zum Beispiel im Rahmen der europäischen Abschiebungspolitik?
Sprache selbst ist niemals nur Übermittlungsinstrument, sondern immer auch politisch. Sie ist nicht gleichgültig, da jedes gesprochene Wort die Umwelt und Verhältnisse verändern kann. Sie ist Spiegelbild der sozialen und politischen Verhältnisse und lässt Rückschlüsse auf den wahren Inhalt von Ideologien und deren Zielsetzung zu. Sie dient nicht nur der Kommunikation von Manipulation, sondern kann selbst das manipulative Element werden. Sprache kommuniziert folglich nicht allein den sachlichen Inhalt, sondern in codierter Form ebenso das Wesen des Sprechenden. Ihre Komplexität erstreckt sich also über Grammatik und Vokabular hinaus und transportiert auch das Verborgene, das verborgen Gewollte, mit.
Es gibt keine reine, unvermischte Sprache
Im zerrissenen Deutschland des späten 19. Jahrhunderts war die deutsche Sprache das perfekte Element des ‚Gemeinsamen‘, mit welchem unter der Vorstellung von sprachlicher Reinheit Nationalbewusstsein, Rassismus und Hass auf ‚Fremde‘ gefördert werden konnten. Diese Annahme ließ jedoch außer Acht, dass es so etwas wie eine ‚unvermischte Sprache‘ gar nicht gibt, dass Sprache vielmehr geschichtlich, epochal und prozessual veränderbar ist und stetig ‚Vermischungen‘ stattfanden und stattfinden. An der Sprache des Nationalsozialismus ist speziell bemerkenswert, dass in nur sehr beschränktem Maße ein eigenes Vokabular erfunden wurde, um die politische Gesinnung an die Massen heranzutragen. Im Wesentlichen wurden Begriffe aus dem vorhandenen Katalog übernommen und dann in ihrem Wert verändert, sodass sie eine sentimentalisierende, manipulierende, entmündigende oder objektivierende Rolle ausfüllten. Da erhielt etwa das zuvor negativ besetzte Adjektiv ‚fanatisch’ im nationalsozialistischen Sprachgebrauch eine Umdeutung ins Positive, zum Beispiel wenn von den ‚fanatisch kämpfenden Truppen’ die Rede war. Die unbewusste Wirkung des Umdenkens, die sich durch solch diametrale Begriffsänderungen bei Menschen erzielen ließen, machte sich auch George Orwells allmächtige Inner Party aus „1984“ zunutze, um die Menschen bis in ihre Gedankengänge hinein zu kontrollierendoublethink als Element der totalen Macht des Big Brother.
Die subtile Machtausübung findet sich ebenfalls in dem alten, heimisch anmutenden, mit Vertrauen besetzten und maßgeblich durch Luther geprägten Substantiv ‚Anliegen’ wieder. Es drückt einen innigen Wunsch oder auch eine dringende Bitte aus. In seiner Verwendung im nationalsozialistischen Sprachgebrauch diente es aber der Benennung von vermeintlich kollektiven Interessen, hinter denen sich faktisch jedoch ein berechnender Eigennutz, Korruption und Machtausspielung verbargen. Wer mit einem ‚Anliegen’ an andere herantrat, konnte sich der Unterstützung in den meisten Fällen sicher sein.