Land der Frühaufsteher
Willkommen im Land der Frühaufsteher
…diesen wohl dämlichsten aller – ohnehin sinnfreien – Länderslogans kennt man spätestens seit Rainald Grebes Lästerhymne auf das ostdeutsche Bundesland, und er liest sich wie bittere Ironie. Umso treffender, dass die Zeichnerin Paula Bulling ihn zum Titel ihres Debütcomics gemacht hat, welches die trostarme Situation von Flüchtlingen in dieser Region zum Thema hat.
Der 26-jährigen Berliner Zeichnerin ist mit diesem Buch bravourös gelungen, sehr persönliche, fast schon private Einblicke in die rauen Lebenswelten der Flüchtlinge zu gewähren und gleichzeitig sich selbst als Protagonistin einzubinden, welche ständig die eigene Rolle als Weiße Künstlerin selbstkritisch hinterfragt. In sieben, lose miteinander verwobenen Kapiteln erzählt sie vom Leben im Flüchtlingslager und den Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner mit Rassismus und Gewalt.
Hauptschauplatz sind verschiedene Flüchtlingslager in Form von schäbigen und heruntergekommenen, meist mit Maschendraht verhausten DDR-Zweckbauten. Mit ihrem persönlichen Zeichenstil – einem Mix aus einem flotten, organischem Strich und einer sehr flächigen, düster anmutenden, aquarellhaften Kolorierung – schafft sie es, die deprimierende Atmosphäre dieser Unorte einzufangen und fast dokumentarisch wiederzugeben. Ihr gelingt das so gekonnt, dass man dem Gefühl erliegt, vor Ort und dabei zu sein, die Geräusche und Gerüche selbst wahrzunehmen.
Paula Bullings größte zeichnerische Stärke ist jedoch, die Menschen, deren Geschichten und Erlebnisse sie wiedergibt, so darzustellen, dass sie nicht als reduzierte, stereotype Comicfiguren auftauchen, sondern als Persönlichkeiten. Sie beobachtet und portraitiert sie äußerst genau. Die so entstandene Reihe einfühlsamer Portraits verleihen dem Buch große Authentizität.
Die gezeigten Erlebnisse und Gesprächssituationen sind unspektakulär und unprätentiös erzählt. Aber sie geben genau die Eindrücke, Erfahrungen und Gefühlszustände wieder, die man tausendfach erlebt, wenn man sich in die Lebenswelt von Flüchtlingen begibt. Das macht das Buch so wohltuend anders, denn wir Leserinnen und Leser werden in diese Welt einfach hereingezogen. Wir sind dabei, wenn die Autorin einen Afrika-Shop besucht und spüren geradezu das Misstrauen, das ihr entgegenschlägt, als sie sich an den Tresen setzt. Wir sind dabei und verfolgen den seitenlangen Dialog von Bewohnerinnen und Bewohnern des Flüchtlingslagers auf Mòoré1 und verstehen nichts. Wir sind dabei und peinlich berührt bei der Schilderung der Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus und wir sind dabei, wenn die Zeichnerin von Zweifeln an ihrer Arbeit befallen und kritisiert wird.
Dieser Versuch einer vorsichtigen und respektvollen Annäherung an das Thema und das ehrliche Eingestehen der eigenen Unsicherheit begleitet die Leserinnen und Leser über die gesamten 128 Seiten. Die Flüchtlinge im tristen Land der Frühaufsteher hätten sich keine bessere Chronistin für ihre beschissene Situation wünschen können.<