Ausgelagert
Von Marvin Lüdemann
Ausgelagert
An der libysch-tunesischen Grenze existiert seit knapp zwei Jahren das Lager Choucha, in dem viele Flüchtlinge aus Libyen – zu einem großen Teil subsaharischer Herkunft – aufgenommen wurden. Das Lager untersteht der Verwaltung des UNHCR, die dort nach den organisationseigenen Kriterien Flüchtlinge für ihr Resettlementprogramm auswählt. Migrierende, die diesen Kriterien nicht genügen, werden zurück in die libysche Krise oder ihre Herkunftsländer geschickt oder verbleiben im Lager. Profiteur dieses Pro zederes ist zweifellos die EU, die sich durch die selektive Aufnahme Einzelner die Menschenrechtsweste rein wäscht und zugleich weiß, dass die Tausenden in Choucha Verweilenden nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, ganz im Gegensatz zu Migrierenden, die in Boote steigen, um sich in die Festung Europa einzuschleichen.
Der Libyenkrieg befreite die libysche Gesellschaft von einem tyrannischen Diktator, wackelte temporär an der Stabilität des europäischen Grenzregimes und zerstörte die Lebensgrundlagen von tausenden von Menschen nicht-libyscher Herkunft. Im Libyen Gaddafis nämlich waren Aufenthaltsgenehmigungen frei erwerbbar und für die meisten nach einiger Zeit der papierlosen Arbeit durchaus erschwinglich. Somit konnten sich viele Menschen aus Subsahara Afrika in Libyen eine Existenz aufbauen, sogar eigene Geschäfte eröffnen und Geld an ihre Familien schicken. Von dem relativen Reichtum Libyens wurde also durchaus über dessen Grenzen hinaus profitiert. Der alltägliche Rassismus der libyschen Gesellschaft war dazu der krasse Gegenpol. Viele Menschen bewegten die ständige Unsicherheit, willkürliche Verhaftungen, in libyschen Knästen drohende Folter und das Verschwinden Unzähliger in Lagern in den letzten Jahren dazu, von Lybien aus die riskante Reise über das Mittelmeer zu wagen.
Wie schon vor der Unterzeichnung der partnerschaftlichen Abkommen zwischen der EU und Libyen 2006 nutzte Gaddafi auch 2011 die klandestine, transmediterrane Migration als Druckmittel gegen die EU und als Antwort auf die NATO-Intervention im Libyenkrieg.
Bomben und Boote
Mit dem Krieg und dem Machtgewinn der selbsternannten Rebellen wuchs die Unsicherheit aller Schwarzer Menschen in Libyen. Ein Teil der Rebellen stellte Schwarze unter Generalverdacht, Söldner Gaddafis zu sein. Darüber hinaus herrschte durch Luftangriffe oder willkürliche Gefechte ständige Gefahr. Die Preise für die Überfahrt nach Europa hingegen waren trotz der hohen Nachfrage auf einem sehr niedrigen Stand. Dies lag maßgeblich daran, dass zumindest die Abfahrt nicht geheim vonstattengehen musste, weil sie in ebendieser Phase von Gaddafi politisch gewollt war. Die libysche Küstenwache blieb tatenlos.
Somit wurde die durch Verträge mit Anrainerstaaten und die hohe Präsenz von Frontex und nationalen Küstenwachen erlangte relative Stabilität des euromediterranen Grenzregimes im Frühling 2011 ins Wanken gebracht. Neben den vor dem Krieg über das Mittelmeer Fliehenden, die von Gaddafi instrumentalisiert wurden, legten auch im benachbarten Tunesien wieder Tausende von Menschen ab, die den revolutionären Moment der polizeilichen Instabilität für sich nutzten und gen Italien reisten. Die hegemonialen europäischen Diskurse reagierten mit der üblichen rassistischen Rhetorik und konstruierten sich zu einem Opfer einer Flüchtlingswelle, die – zumindest diskursiv – naturkatastrophale Ausmaße anzunehmen schien. Bestärkt wurde diese Rhetorik durch den Tabubruch Frankreichs, die Schengener Freizügigkeit in Frage zu stellen und – zumindest temporär – wieder Grenzkontrollen einzuführen.
Wüstenlager als Externalisierungserfolg der EU
Vor diesem Hintergrund scheint es für die EU ein wahrer Glücksfall gewesen zu sein, dass sich das postrevolutionäre Tunesien schnell stabilisierte, zahlreiche Menschen dort hin flohen und das europäische Grenzregime so nicht auf einem direkten Weg herausforderten.
Auf tunesischer Seite nur wenige Kilometer von der libyschen Grenze entfernt, errichtete der UNHCR das Flüchtlingslager Choucha in einer tunesischen Militärbasis. Neben Choucha existierten im Grenzbereich noch zwei Lager und weitere im Landesinneren. In Choucha bot der UNHCR seit März 2011 Schutz und die Möglichkeit im Refugee Status Determination (RSD)-Verfahren am Resettlement-Programm teilzunehmen.