Der Idealist und Schreibtischtäter
Von Klaus Schmidt
Der Idealist und Schreibtischtäter
Menschen mit vermeintlicher oder tatsächlicher Krankheit beziehungsweise Behinderung wurden von den Nazis mit dem Stempel „unwertes Lebens“ versehen. Ihnen sei nur mit dem „Gnadentod“ zu helfen. Friedrich Tillmann, in Köln hauptberuflich als Waisenhausdirektor tätig, spielte beim Mord an 70 000 sogenannten „Kranken“ zwischen 1939 und 1942 eine wichtige Rolle.
Köln, 1964: Friedrich Tillmann schreibt am Rosenmontag seinem Sohn eine karnevalistische Ansichtskarte und grüßt zünftig mit „Kölle Alaaf!“. Am Aschermittwoch liest er morgens im Kölner Stadt-Anzeiger einen langen Artikel, der mit einer Notiz auch über ihn endet: „Tillmann wirft die Anklagebehörde Beihilfe zur Tötung von 70 000 Menschen vor. Er soll unter anderem die Trostbriefabteilung organisiert, das Verschleierungssystem vervollkommnet, Widerstände gegen Euthanasie in den Anstalten beseitigt und einmal den Reichsjustizminister beruhigt haben.“ Tillmann geht zu seiner in einem Verwaltungshochhaus arbeitenden Schwägerin, klagt über große Herzschmerzen und Atemnot. Dann verabschiedet er sich und sucht die Toilette auf. Kurz darauf stürzt er 35 Meter tief aus dem Toilettenfenster in den Tod. Ein Abschiedsbrief wird nicht gefunden.
Tillmanns Geständnis
Dortmund, 1960: Bereits vier Jahre vor seinem Fens – tersturz wird Tillmann in seinem Wohnort CastropRauxel vom Amtsgericht in Castrop-Rauxel zur Last gelegt, die Tötung von etwa 70 000 erwachsenen Insassen von „Heil- und Pflegeanstalten“ „gefördert“ und „durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet“ zu haben. Tillmann gibt gegenüber dem Dortmunder Staatsanwalt über seine Tätigkeit bei der „T4-Aktion“ ausführlich Auskunft. Man habe ihm seinerzeit in Berlin gesagt, „die durchgeführten Euthanasie-Maß- nahmen beruhten auf einem Gesetz. Das Gesetz sei zwar noch nicht veröffentlicht, weil die Regierung eine Veröffent – lichung zur Zeit noch nicht für ratsam hielte. Ich habe das geglaubt.“
In einer Vernehmungspause bejaht Tillmann auch die Frage des Staatsanwalts, ob er persönlich einmal an einer Tötung von „Geisteskranken“ teilgenommen habe. Den Ablauf schildert er so: Die betreffenden „Kranken“ wurden in einem Baderaum durch Gas getötet, in einer Duschanlage mit etwa zwölf Brausen. An den Wänden entlang standen Bänke. In diesen Raum seien dann etwa dreißig „Kranke“ entkleidet hineingeführt worden. Man hat ihnen gesagt, sie müssten jetzt ein Bad nehmen. Danach öffnete ein Arzt eine Gasflasche. Die „Kranken“ waren „völlig ahnungslos“. Es habe sich um „bedauernswerte Kranke“, teilweise „menschliche Wracks“ gehandelt, sie seien aber ansprechbar gewesen, so Tillmann. In dem Raum blieben sie etwa eine Stunde. Die getöteten „Kranken“ hätten am Boden gelegen und „den Eindruck gemacht, als seien sie friedlich eingeschlafen“. Irgendwelche Anzeichen von Todeskämpfen habe Tillmann nicht bemerkt.