Die ganze Kolonie, Marsch!
Von Andrés Schmidt
Die ganze Kolonie, Marsch!
Der Begriff der „Entwicklungshilfe“ ist umstritten und wirft Fragen auf. Definiert er Geschichte als eine Art Stufenleiter, auf der alle früher oder später denselben Weg einschlagen? Und wer möchte eigentlich wem helfen, sich wohin zu entwickeln?
Donnerstagmittag. Ein Café im Münchner Stadtteil Haidhausen. Zwischen Latte Macchiato und Bircher Müsli diskutiert ein mittdreißiger Pärchen über Entwicklungshilfe. Er: „Die Projekte und Organisationen haben oft gute Ansätze, aber was dann in der Realität rauskommt, ist selten das, was man erreichen wollte. Gute Entwicklungshilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe.“ Sie: „Ich bewundere schon die Leute, die alleine ganz weit rausgehen, zum Beispiel der Krankenpfleger aus Großhadern, der neulich in der Süddeutschen Zeitung porträtiert wurde.“ Ein Herr an der Theke meint dazu: „Die staatliche Entwicklungshilfe ist viel zu niedrig. Kein Land erreicht die 0,7% des Bruttoinlandsprodukts, zu denen sich die OECD Länder verpflichtet haben.“
Kritisch sind die Leute hier. Aber müsste ihre Kritik nicht eigentlich viel früher ansetzen?
Wichtiger als die Wirklichkeit ist deren Deutung
„Entwicklung“ als Gedanke ist weder harmlos noch unbedeutend. Viel wirksamer als die Praxis der Entwicklungshilfe ist der Entwicklungsgedanke. Gemessen am Welthandel ist das Finanzvolumen der weltweiten Entwicklungspolitik sehr klein. Enorm ist aber die Bedeutung des Entwicklungsdiskurses für die Deutung des Phänomens von Armut und Reichtum in der Welt: Die reichen, sprich „entwickelten“ Länder seien guten Willens, die Armen beim Erreichen ihrer Entwicklungsziele zu unterstützen. Diese Deutung verschleiert das (neo-)koloniale Ausbeutungsverhältnis, das dem Welthandel zugrunde liegt. Hier fließen enorme Geldwerte von Süd nach Nord, die in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch kaum auftauchen. Wer interessiert sich schon für die Bestimmungen eines Freihandelsabkommens? Der globale Norden ist vom Süden abhängig. Er braucht billige Rohstoffe, billige Arbeitskräfte und Absatzmärkte für seine Produkte – und nutzt dabei sein enormes Machtpotential, um dies zu realisieren. Was im Kolonialismus als Völkermord und Plünderung begann, setzt sich heute in Freihandelsabkommen, im Internationalen Währungsfonds und in der Welthandelsorganisation fort: Der Reichtum der Welt verschiebt sich in die Länder des Nordens. Wahrhaben will das aber niemand; auch die Haidhausener Nutznießer und Nutznießerinnen dieses fortgesetzten weltweiten Unrechts argumentieren nicht gerne mit dem Recht des Stärkeren zur Legitimierung ihres Wohlstands. Es lebt sich eben leichter mit dem Selbstverständnis, den Armen ja nur helfen zu wollen.
Aus Kolonien wurden „Entwicklungsländer“
Wo fing das alles an? Vor der Geburtsstunde des Entwicklungsversprechens war die Weltordnung so brutal wie einfach: In der Ideologie des Kolonialismus wurde die privilegierte Stellung des Nordens rassistisch gerechtfertigt. Die Welt wurde in „weiß“ und „nicht weiß“, „zivilisiert“ und „nicht zivilisiert“ eingeteilt und daraus der Führungsanspruch der Kolonialmächte bei der Aufgabe der weltweiten „Zivilisierung“ abgeleitet. Spätestens nach dem Sieg über den Faschismus war diese Ideologie nicht länger haltbar. Die UNO-Menschenrechtscharta legte das Recht jedes Einzelnen auf Glück und ein Leben in Würde fest. 1949 gab US-Präsident Harry Truman in seiner Vereidigungsrede allen Ländern, in denen Armut herrschte, das Versprechen, man werde ihnen bei ihrer „Entwicklung“ helfen: „More than half the people of the world are living in conditions approaching misery. […] Their economic life ist primitive and stagnant. Their poverty is a handicap and threat both to them and to the more prosperous areas. […] I believe that we should make available to peace-loving peoples the benefits of our sum of technical knowledge in order to help them realize their aspirations for a better life.“ Bei richtigem Verhalten könnten alle Menschen den Lebensstandard der Ver – einigten Staaten erreichen. Er teilte damit die Welt in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Länder ein. Die Grenze entsprach derjenigen zwischen (ehemaligen) Kolonialmächten und (ehemaligen) Kolonien. Hintergrund von Trumans Versprechen war die einsetzende Konkurrenz zwischen den USA und der Sowjetunion um weltweite Einflusssphären. Die USA wurden damit zum Anschauungsobjekt eines „entwickelten“ Landes. Armut wurde durch „Unterentwicklung“ erklärt – ein Mangel, der durch vom Norden empfohlene Rezepte behoben werden sollte.