Ethnographie am Ufer
Von Stephan Dünnwald
Ethnographie am Ufer
Silja Klepp ist mit Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz eine sehr lesenswerte Ethnographie der Seegrenze gelungen.
Das Mittelmeer als umkämpfter Grenzraum zog in den letzten Jahren immer wieder Aufmerksamkeit auf sich. Gegen irreguläre Einwanderung nach Europa wurden zunehmend militärische Maßnahmen ergriffen. Die eingesetzten Einheiten hatten einerseits damit umzugehen, Migrantinnen und Migranten nach Möglichkeit nicht in die Nähe europäischen Territoriums gelangen zu lassen, andererseits schiffbrüchige Migrantinnen und Migranten zu retten und in den nächstgelegenen sicheren Hafen zu bringen. Dies gelingt nicht immer, und so kursieren verschiedene, aber gleichermaßen erschreckende Zahlen und Schätzungen über diejenigen, die auf See umgekommen sind, ertrunken, verhungert, verdurstet. Zu den Gründen zählt nicht allein das Unvermögen, das Mittelmeer lückenlos zu überwachen, sondern auch ein Zuständigkeitsproblem. Es liegt im Interesse aller involvierten Staaten, möglichst wenige Migrantinnen und Migranten aufnehmen zu müssen; da auf See die Zuständigkeit nicht immer deutlich geregelt werden kann, sterben immer wieder Menschen, weil ihnen niemand beherzt zu Hilfe eilt.
Das Dilemma, gleichzeitig zu retten und abzuwehren, wird inzwischen häufig dadurch „gelöst“, dass zunehmend an afrikanischen Küsten und in enger Kooperation mit den jeweiligen afrikanischen Staaten Migrantinnen und Migranten schon im küstennahen Bereich zur Umkehr gezwungen werden. So kann die Bilanz der abgewehrten Flüchtlinge gleichzeitig als eine Bilanz der auch vor den Gefahren des Seewegs nach Europa geschützten Personen interpretiert werden. Auch diese Praxis zieht die Kritik von Menschenrechtsorganisationen auf sich, da unter den Zurückgewiesenen regelmäßig Personen sind, die Anspruch auf internationalen Schutz beanspruchen können, und die nicht in Staaten zurückgewiesen werden dürften, in denen dieser Schutz nicht einzufordern ist.
Schwierige Recherchebedingungen
Dies sind nur einige Facetten dieses umfangreichen Themas, das von Silja Klepp gekonnt aufgegriffen und beschrieben wird. Sie bedient sich dabei einer rechtsanthropologischen Perspektive, die zwar von bestehenden Rechtsnormen ausgeht, aber deren Anwendung als je lokale Aushandlungsprozesse begreift. Der Zugang zum Recht, sei es die seerechtliche Verpflichtung zur Rettung Schiffbrüchiger, das Asylrecht oder internationale Rechte zum Schutz der Menschenwürde, ist gerade auf dem offenen Meer nicht per se gegeben, sondern seine Durchsetzung wird situativ, lokal und temporär ausgehandelt, wobei Grenzschutzpersonal, Menschenrechtsorganisationen sowie Migrantinnen und Migranten über sehr unterschiedliche Möglichkeiten verfügen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Grenzschutz über ein Beinahe-Monopol hinsichtlich der Berichterstattung über eigene Aktivitäten verfügt. In nur wenigen Fällen gelingt es Migrantinnen und Migranten oder Menschenrechtsorganisationen, alternative Darstellungen von Vorgängen auf See an die Öffentlichkeit zu bringen. In dieser Situation tut sich auch die Ethnographin schwer, an Informationen zu gelangen. Was auf See passiert, erschließt sich ihr nicht unmittelbar, weil es weder möglich ist, mit den Migrantinnen und Migranten ins lebensgefährliche Boot zu steigen, noch, auf den Patrouillebooten der Grenzwachen mitzufahren. Die Ethnographin bleibt an Land (nur ein einziges Mal darf sie mit einem Boot der italienischen Küstenwache hinaus aufs Meer), um dort das Geschehen zu verfolgen, das Vertrauen von Hafenangestellten und Matrosen zu gewinnen, Gespräche und Geschwätz zu notieren, und sich daraus eine Vorstellung dessen zu machen, was auf See vor sich geht. Sie versucht, Verantwortungstragende zu treffen, und mehr als einmal notiert Klepp, dass bei diesen Gelegenheiten peinlich darauf geachtet wurde, dass Gespräche nicht aufgezeichnet werden. So ist es verdienstvoll, dass es Silja Klepp gelungen ist, zahlreiche Interviews und Gespräche mit Marineoffizieren, Polizeipersonal und Behördenvertretungen zu führen, und von ihnen teils sehr offene Stellungnahmen zu erhalten. Auch in Libyen Kontakt mit Migrantinnen und Migranten aufzunehmen, ist keine Selbstverständlichkeit. Man kann nur erahnen, wie viel Hartnäckigkeit und Umsicht dieses Vorgehen erfordert hat, denn all die erfolglosen Kontaktversuche tragen ja nicht zum Thema bei und bleiben deshalb weitgehend unerwähnt.