„Europa erfindet die Zigeuner“
Von Stefan Klingbeil
Aufruf zum Handeln
Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch mit der Erfindung der „Zigeuner“. Eine Rezension von Stefan Klingbeil.
„Diese Studie liest sich […] anregend klar,
bereichernd, oft beschämend […].“
(Rolf-Bernhard Essig, Die Zeit)
„Bogdal ist […] eine höchst differenzierte,
gänzlich unkitschige und zuweilen mitreißende
Studie gelungen […].“
(Uwe Ebbinghaus, FAZ)
„Klaus-Michael Bogdals Buch ist für das
Verständnis der gegenwärtigen Situation der
Roma in Europa und deren Hintergründe
unentbehrlich. Man möchte hoffen, dass es
seinen Weg in den Geschichtsunterricht und auf
den Schreibtisch von Politikern findet.“
(Cia Rinne, taz)
Bei so viel Lob aus so unterschiedlichen Ecken stellt sich hier natürlich die Frage, was nun noch zu sagen wäre, acht Monate nach Erscheinen von Klaus-Michael Bogdals Europa erfindet die Zigeuner. Vielleicht dies: „Wer gehofft hat, dass hinter den dargestellten Zerr – bildern durch kritische Untersuchung am Ende die wirklichen Menschen hervor treten und die Wahrheit über die Romvölker erscheinen wird, wer mithin gehofft hat, dass sich die Erfindung [der „Zigeuner“] als Schimäre auflöst, muss enttäuscht werden. Wissen kann den Aufgeklärten und Gutwilligen zur Selbstbeobachtung ermutigen, wirkliche Veränderung setzt mehr voraus: eine grundlegende Verbesserung der rechtlichen Verhältnisse, der sozialen Lage und der kulturellen Verständigung.“ (Bogdal, S. 479)
Denn so geht es mir: Seitdem ich große Teile des 592 Seiten starken Buches verschlungen habe, fühle ich mich mehr denn je zur verstärkten Selbstbeobachtung ermutigt und in meinem Einsatz für die Verbesserung der rechtlichen Verhältnisse und der sozialen Lage der Roma bestärkt. Daran nämlich lässt Bogdal auf keiner Seite Zweifel aufkommen: Alles, was wir meinen zu wissen über Roma, ist Nichts, alles was getan werden muss, um dies, und die Lage der Roma zu verbessern und ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben in sozialer Sicherheit herbei zu führen, liegt noch vor uns. Die hierfür nötigen Bündnisse – auch und insbesondere mit den selbstorganisierten Verbänden – müssen immer wieder neu geschmiedet werden.
Bogdals Werk ist nicht trotz, sondern wegen seines detailgewaltigen und faktenreichen Umfangs so lohnenswert. Auf jeder Seite entdeckst Du Dich selbst neu, betrittst Du antiziganistisch vermintes Gelände, stößt Du auf Quellen antiziganistischer Unterströ- mungen. Und zwar in einem Maße, dass man das Buch auch nicht am Stück lesen muss. Jedes Blättern in den sich über Jahrhunderte erstreckenden Kapiteln, jedes Stöbern in den unglaublich umfangreichen Ableitungen antiziganistischer Vernichtungs- und Vertreibungslegitimationen lässt Dich dann doch wieder in die über 100 Seiten umfassenden Quellenangaben schauen. Nur um wieder und wieder auf Material zu stoßen, das (meist hinter Deinem Rücken) längst in das eigene AllgemeinUnwissen eingeflossen war.
Europa erfindet die Zigeuner ist Literaturwissenschaft at its best. Nicht, weil es literarisch so besonders gelungen ist. Dies wäre sicherlich die falsche Erwartung an ein Werk, das einen solch umfassenden Blick auf Quellen aus über 600 Jahren Juristerei, Sozialwissenschaften und Literatur frei legt. Sondern weil es sich nicht der schön – geistigen Onanie am geschriebenen Wort hingibt (die, mit Verlaub, ja durchaus unterhaltsam sein kann), sondern aus der Auseinandersetzung mit dem geschrieben Wort Wissen produziert, das durch sein schonungsloses Offenlegen des Nichtwissens so sehr zum Nachdenken und Handeln aufruft.