Funktionsstörungen in der Dubliner Sortieranlage
Von Marc Speer
Funktionsstörungen in der Dubliner Sortieranlag
Die Somalier Abdikarim, Liban und Mohamed haben sich in einer Asylunterkunft in Niederbayern kennengelernt. Ihre Fluchtgründe ähneln sich, doch über ihre Zukunft in Deutschland entscheidet allein ihr Reiseweg.
S eit Januar dieses Jahres schiebt Deutschland, zunächst befristet auf ein Jahr, keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland ab. Angesichts der drohenden Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht erklärte sich das Innenministerium in letzter Minute bereit, in allen Fällen, die Griechenland betreffen, grundsätzlich von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Das bedeutet, dass die Asylverfahren in Deutschland durchgeführt werden und nicht mehr auf das Dubliner Übereinkommen zurückgegriffen wird. Dieses sieht eigentlich vor, dass jener (europäische) Staat für das Asylverfahren zuständig ist, den die Flüchtlinge, die sich im Asyl bewerben, zuerst betreten haben. Die geographisch sowie zeitlich befristete Abkehr vom Prinzip der normativen Vergewisserung dürfte allerdings weniger in einem grundsätzlichen Politikwandel begründet sein als vielmehr in den Berichten von NGOs, Bewegungsaktiven sowie den zahlreichen Medienberichten über die katastrophale Lage in Griechenland. Folglich gilt es nun, danach zu fragen, wie sich die Situation in den anderen Randstaaten der Europäischen Union darstellt. Der folgende Text zeichnet drei Migrationsbiographien von Flüchtlingen nach, die in einem niederbayerischen Flüchtlingslager zusammentrafen und deren gemeinsames Schicksal darin liegt, dass die Reise noch lange nicht beendet sein dürfte.
„Zwangsehe“ mit Malta
Abdikarim, ein Somalier um die 30, reiste Ende 2008 zunächst über Kenia nach Tripolis, wo er fünf Monate lang sein Leben und seine Weiterreise unter klandestinen Bedingungen zu organisieren hatte: Jedes Verlassen der Wohnung, die er sich mit somalischen Landsleuten teilte, barg die Gefahr, von der libyschen Polizei oder vom Geheimdienst verhaftet zu werden. Dazu kam, dass selbst Kontakt zur libyschen Bevölkerung mit dem Risiko verbunden war, von dieser als „Illegaler“ identifiziert zu werden. Dann würde er vor die Wahl gestellt, „zu zahlen“, oder sie übergeben ihn an die die libyschen Behörden, was im Regelfall etliche Monate im Gefängnis nach sich zieht. Trotz all dieser Probleme gelang es Abdikarim Anfang 2009, gemeinsam mit über 200 weiteren Somalierinnen und Somaliern, darunter auch Familien mit Kindern, in einer zweitägigen Fahrt von Libyen nach Malta überzusetzen. Dort angekommen nahm man ihnen – noch bevor sie mit Wasser und Nahrung versorgt wurden – zunächst die Fingerabdrücke ab. Das wird sich später noch als verhängnisvoll herausstellen. Ohne jemals einem Richter vorgeführt zu werden, wurde er anschließend für über ein Jahr inhaftiert. Daran änderte auch sein Asylantrag, der schlussendlich abgelehnt wurde, wenig. Wie Dominik Bender und Maria Bethke in ihrem Bericht zu Malta ausführen, war die Inhaftierung von Abdikarim keineswegs „unglücklichen Umständen“ geschuldet. Vielmehr gehört die sofortige Unterbringung in geschlossenen detention centres zum Standardrepertoire der maltesischen Behörden. Aber nicht nur der Fakt der grundsätzlichen Inhaftierung an sich sowie deren Dauer sind bedenklich, sondern auch die Umstände, unter denen diese vollzogen werden: Abdikarim berichtete von einer sechs mal zehn Meter großen, mit Stockbetten vollgestopften Zelle, in der insgesamt 48 Personen untergebracht waren. Der Versuch des Widerstandes gegen diese Bedingungen – mittels Hungerstreik – wurde vom Wachpersonal nicht etwa mit einer Verbesserung der Haft oder gar Freilassung beantwortet, sondern mit Prügeln und Tränengas. Nach über einjähriger Inhaftierung wurde Abdikarim dann entlassen und in einem alten Flugzeughangar untergebracht. Diesen durfte er zwar tagsüber verlassen, dennoch fand er sich weiterhin in einer Situation wieder, die ihm keine halbwegs erträgliche Zukunftsperspektive zu bieten hatte: Ohne Job, ohne regulären Aufenthaltstitel, mit nicht mehr als einem Bett in einem überfüllten Lager unter hygienischen Bedingungen, die jeglicher Beschreibung spotten und das alles auf einer winzigen Insel inmitten des Mittelmeers. Was also tun? Abdikarim fasste nach vier Monaten den Entschluss, sich dieser unerträglichen Situation durch die informelle Weiterreise nach Deutschland zu entziehen. Auf die genauen Umstände, wie er das schaffte, möchte er verständlicherweise nicht näher eingehen. Leider wird sich Malta für Abdikarim aller Voraussicht nach und ungeachtet seiner physischen Anwesenheit in Deutschland dennoch als eine Sackgasse erweisen: Aufgrund der Registrierung seiner Fingerabdrücke auf sortieren Diesem Prinzip der normativen Vergewisserung zufolge reicht es aus, wenn sich ein Staat verpflichtet asylrechtliche Standards einzuhalten. Ob sich dies auch mit der Realität deckt, spielt keine Rolle 55 Die Somalier Abdikarim, Liban und Mohamed haben sich in einer Asylunterkunft in Niederbayern kennengelernt. Ihre Fluchtgründe ähneln sich, doch über ihre Zukunft in Deutschland entscheidet allein ihr Reiseweg. Von Marc Speer Der Kontakt zur libyschen Bevölkerung war mit dem Risiko verbunden, als „Illegaler“ identifiziert zu werden Malta kann von einer Art Zwangsehe zwischen ihm und dem maltesischen Staat gesprochen werden. Zwar ist diese Beziehung von beiden Seiten nicht mehr gewollt, dennoch ist eine „Scheidung“ dieser „Dubliner Zwangsehe“ nicht vorgesehen. Für seine Fluchtgründe interessiert sich in Deutschland niemand, es geht einzig und allein darum, ihn möglichst schnell wieder los zu werden. Zwar sieht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei besonders schutzbedürftigen Personen, insbesondere bei Minderjährigen, von einer Abschiebung nach Malta ab, aber als alleinstehender Mann ohne größere gesundheitliche Probleme wird dies auf ihn kaum zutreffen. Und auch der Gang vor das Verwaltungsgericht wäre wenig hoffnungsvoll. Hätte Abdikarim seine digitale Spur nicht auf Malta sondern in Griechenland hinterlassen, hätte er als Somalier aktuell beste Chancen auf Anerkennung als Flüchtling in Deutschland. Im schlechtesten Fall erhielte er subsidiären Schutz . Aber so bleibt ihm gegenwärtig eigentlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, also der Entscheidung zwischen dem Abtauchen in die Illegalität oder dem Warten auf die Abschiebung nach Malta.