Revolution.Macht.Migration.
Von Bernd Kasparek
Revolution. Macht. Migration.
Die EU-Migrationskontrolle bietet nach dem „arabischen Frühling“ offene Flanken für antirassistische Interventionen.
Der „arabische Frühling“, die erfolgreichen und folgenreichen Revolutionen im Maghreb, hat nun auch wieder Lampedusa in den Mittelpunkt des medialen Interesses gerückt. Zumindest was das Thema Migration nach Europa betrifft. Denn täglich kommen dort Flüchtlinge an, und dies schon seit Februar. Das vormals existierende System der Vorverlagerung, also die Einbindung der nordafrikanischen Staaten in die europäische Migrationsverhinderung im Mittelmeerraum, das vor allem Italien meisterhaft umsetzte, ist mit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten sowie dem Bürgerkrieg in Libyen erst einmal zusammengebrochen. Aufsehen erregte die tunesische Übergangsregierung, die die von Italien geforderte Stationierung von EU-Polizistinnen und -Polizisten in Tunesien zu Zwecken der Migrationsverhinderung brüsk zurückwies und ihren Sprecher erklären ließ, Roberto Maroni – italienischer Innenminister von der Lega Nord – sei ein „rechtsextremer Rassist“. Aber vor allem ein möglicher Fall des Regimes Gaddafi in Libyen würde der italienischen Regierung ihren Kooperationspartner abhanden kommen lassen.
Die medialen und politischen Reaktionen in Europa waren vorhersehbar. Schon als die ersten Menschen aus (Nord-)Afrika in Lampedusa ankamen, wurde wieder das alte Bild der „Flüchtlingsströme“ bemüht. Die italienische Regierung phantasierte einen „Exodus biblischen Ausmaßes“ herbei, Europa sah sich wieder von einer „Flut an Flüchtlingen“ bedroht. Schnell wurden Rufe nach der europäischen Grenzschutzagentur Frontex laut, die auch sofort den Beginn der schon lange geplanten „Operation Hermes“ im Mittelmeer vorzog und seitdem verstärkt im zentralen Mittelmeer aktiv ist. Die italienische Regierung forderte zudem eine Aussetzung des Dublin-II-Systems, welches vorsieht, dass das Land der ersten Ankunft (hier: Italien) für die Durchführung eines Asylantrags zuständig ist. Die restlichen europäischen Staaten – allen voran Deutschland – reagierten stereotyp und lehnten die Aufnahme von Flüchtlingen ab.
Flüchtlinge? Wir wollen arbeiten!
Doch die zumeist aus Tunesien Migrierten auf Lampedusa selbst erklärten sich keineswegs zu Flüchtlingen. Sie gaben an, arbeiten und Geld verdienen zu wollen. Die Transformation des Mittelmeers in eine undurchdringliche Grenze zwischen Europa und Nordafrika, welche die EU vor allem im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends forcierte, hatte die schon lange bestehenden (Arbeits-)Migrationsmuster zwischen Nordafrika und Europa unterbrochen. Bis Anfang April nutzten rund 20.000 Tunesierinnen und Tunesier die Möglichkeit, die die dramatisch veränderten Umstände boten und brachen nach Lampedusa auf. Dabei kann es als wunderschöne Ironie der Geschichte gelten, dass die Unmöglichkeit der Migration eine der Voraussetzungen der tunesischen Revolution war. Denn viele Protagonistinnen und Protagonisten der tunesischen Revolution – gut ausgebildete, aber dennoch arbeitslose junge Menschen – sind eigentlich die klassischen, wenn auch in diesem Fall womöglich verhinderten, Auswandererinnen und Auswanderer. So thematisierte auch Mahdi Mabrouk, Soziologe und Migrationsexperte an der Universität von Tunis, den Zusammenhang zwischen Migration und Revolution: „Wenn du einen Saal hast und die Fenster und Türen abschließt, werden die Menschen, die drinnen fest sitzen, natürlich rebellieren.“ Welchen Beitrag die europäische Abschottungspolitik tatsächlich zu der geglückten Revolution in Tunesien geleistet hat, gilt es zu erforschen, dennoch ist klar, dass die neuen Entwicklungen in Nordafrika auch für Europa nicht ohne Folgen bleiben werden.