Systemrelevant? Das hatten wir schon …
Von Judith Amler
Wie Unterschiede im Verständnis ein und desselben Begriffs in der Finanzkrise 2008 und in der Corona-Pan- demie 2020 aufzeigen, dass es eines grundlegenden Wandels bedarf
März 2020: Europaweit treten Menschen jeden Abend auf die Balkone, um für Corona- Helfer*innen zu klatschen. Berufsstände, die jahrelang jeder gesellschaftlichen Anerkennung entbehrten, erfahren mit dem Ausbruch der Covid-19- Pandemie eine sprunghaft gestiegene Aufmerksamkeit. Dankbarkeit äußert sich nicht mehr nur seitens derjenigen, die tatsächlich der Hilfe von Kranken- und Pflegepersonal bedürfen, sondern die Gesellschaft applaudiert insgesamt. In der Angst vor dem Virus und aus Respekt vor denjenigen, die sich seiner Bekämpfung tagtäglich aussetzen, wird Menschen, die die grundlegende Versorgung der Gesellschaft selbst in Zeiten des sogenannten Lockdowns sichern, ein Held*innen-Status zuerkannt. Regierungspolitiker*innen ergehen sich in Lobeshymnen auf das Personal von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und erkennen es als systemrelevant an.
September 2008: Mit dem Zusammenbruch der Investment-Bank Lehman Brothers wird eine sich lang ankündigende Krise des globalen Finanzsystems manifest. Nur wenige Tage nach der Insolvenz der US- amerikanischen Großbank stehen knapp 25.000 Mitarbeiter*innen auf der Straße. Bilder von Banker*innen, die Kartons mit persönlichen Gegenständen aus dem Büroturm am New Yorker Times Square tragen, prägen die mediale Berichterstattung überall. Doch die Folgen der Pleite gehen weit über persönliche Schicksale hinaus. Die ungeordnete Insolvenz der global agierenden Bank erschüttert das Finanzsystem weltweit und mündet in eine massive Vertrauenskrise, die die Politik rund um den Globus zum Handeln bringt. Sogenannte systemrelevante Banken werden mit Milliardenhilfen aus staatlichen Töpfen gerettet und bringen schließlich Staaten selbst an den Rand des Ruins. Die Folgen dieses Handelns spüren die Bürger*innen unzähliger Länder bis heute. Gerade an der sozialen Sicherung und auch im Gesundheitssektor wurde zur Tilgung der Staatsverschuldung in den letzten zehn Jahren vielerorts massiv gespart, wobei sich ein schon Ende der 70er Jahren begonnener Trend fortgesetzt hat; allerdings mit einer nochmals deutlich gestiegenen Intensität.