Wir haben die Verfassung, aber sie haben die Polizeigewalt
Ein Interview von Julia Scheurer
Die Deutsche Regierung hat ein großes Interesse daran, die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten zu erweitern. Bei einem sicheren Herkunftsstaat wird davon ausgegangen, dass Menschen aus diesen Ländern kein Asyl benötigen, weil es da, wo sie herkommen sicher sei und sie wieder dorthin abgeschoben werden können. Auch Tunesien soll zukünftig ein „sicherer Herkunftsstaat“ werden. Menschenrechtsorganisationen widersprechen dem und prangern an, dass Tunesien für Oppositionelle, Frauen, Homosexuelle und andere, alles andere als ein sicheres Land sei. Damj – das heißt auf arabisch Inklusion – ist eine tunesische Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich für die Rechte Homosexueller einsetzt. Am Beispiel der Situation der LGBTIQ Community wird im Gespräch von Julia Scheurer mit Rzouga Selmi deutlich, dass das Leben in Tunesien auch Unsicherheit bedeutet.
Kindergeschrei, Türengeklapper. Rzouga Selmi, der in der Küche sitzt und konzentriert auf das Skype-Video schaut, versucht den Geräuschpegel im Hintergrund auszublenden. Es ist Ramadan, und wie jeden Abend ist Rzouga zum Fastenbrechen bei seiner Familie, bevor er sich später am Abend mit seinen Freunden verabreden wird. In diesem besonderen Gemisch aus Alltag und Ausnahmezustand sprechen wir über Tunesien, Rzougas Aktivismus für die Rechte Homosexueller, und den Versuch der deutschen Bundesregierung, Tunesien als sicheren Herkunftsstaat einzustufen.
Wir müssen uns einander nicht vorstellen. Ich habe Rzouga 2015 auf dem Weltsozialforum in Tunis getroffen. Da war er 20 Jahre alt und schon seit zwei Jahren Mitglied bei Damj, inzwischen ist er im Vorstand der Nichtregierungsorganisation.
Wo kommst du gerade her, wo wirst du nachher hingehen? Was unterscheidet das alltägliche Leben in Tunis von dem in Bochum oder Berlin?
Gerade ist Ramadan, da ist alles etwas anders, da wird deutlich, dass Tunesien ein arabisches Land ist. Das Leben spielt sich dann an den Abenden nach dem Fastenbrechen ab. Sonst ist das Leben für uns, die jungen Menschen, eigentlich gar nicht so verschieden vom Leben bei euch drüben. Zumindest gilt das für die Clubs. In den Clubs, oder sagen wir in 70 Prozent der Diskotheken, haben wir die Freiheit, so zu sein wie wir sind. Für draußen, für das Leben auf der Straße gilt das zwar nicht, aber drinnen, an Orten wie den genannten, da gibt es Freiraum.
Was bedeutet das im Umkehrschluss für das Leben am Tag, auf den Straßen, für Menschen, die homosexuell sind – oder in ihrer Orientierung von der Norm abweichen – und als solche identifiziert werden?
Alleine beim Verdacht, dass du homosexuell bist, kann es sein, dass du im Café nicht bedient wirst, oder dass du rausgeworfen wirst, dass sie dich auf dem Markt nicht einkaufen lassen. All diese Sachen. Und ich muss ja nicht erwähnen, dass Homosexualität laut Gesetz unter Strafe steht. Das bedeutet bis zu drei Jahren Gefängnis, wenn sie dich erwischen. Ein Beispiel: In letzter Zeit wird vermehrt bei Menschen aus der LGBTIQ-Community eingebrochen. Wenn die geschädigte Person dann die Polizei ruft, und der Täter sogar gefasst wird, dann passiert Folgendes: Die Person, die eingebrochen hat, versichert, es sei ein politischer Akt gewesen, um dem Homosexuellen eine Lehre zu erteilen.
Daraufhin wurde dann mehrfach die Person, bei der eingebrochen wurde, anstatt des Kriminellen verhaftet! Homosexualität steht ja schließlich unter Strafe. Ob jemand auch wirklich homosexuell ist, wird dann durch den Analtest festgestellt, der eigentlich durch die Verfassung und das Recht auf körperliche Integrität nicht mehr erlaubt ist. Aber die traurige Wahrheit ist: Wir haben die Verfassung und sie haben die Polizeigewalt. Da ist also einerseits die Diskriminierung qua Gesetz, durch den Artikel 230 des Strafgesetzbuches, der unverändert seit seiner Einführung 1913 besteht und andererseits die Diskriminierung durch die Gesellschaft, die uns im Alltag ausschließt und beschimpft.