Zeit – Europas Waffe gegen Menschen auf der Flucht
Von Maurice Stierl
Verzögerungen bei der Rettung von Menschen im Mittelmeer sind kein politisches Versagen der Europäischen Union (EU). Sie sind eine absichtliche, grausame Strategie.
Von Maurice Stierl
Internationale Organisationen schätzen, dass in diesem Jahr bisher etwa 1.800 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute starben – die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen. Wenn Boote mit Menschen auf der Flucht drohen im Mittelmeer zu kentern, ist die Geschwindigkeit von Rettungseinsätzen entscheidend. Jede Verzögerung kann zu schweren körperlichen Schäden führen oder Menschenleben kosten. In derartigen Situationen schnellst- möglich Rettungsmaßnahmen einzuleiten, ist jedoch keine Priorität der EU.
In einer kürzlich im Journal Security Dialogue erschienenen Studie argumentiere ich, dass Zeit immer mehr zu einer Waffe im mediterranen Migrationsmanagement geworden ist. Um die Ankunft von Geflüchteten in Europa zu verhindern, haben die EU und ihre Mitgliedstaaten im vergangenen Jahrzehnt nach immer neuen Möglichkeiten gesucht, Rettungs- einsätze gezielt zu verlangsamen und gleichzeitig Abfangaktionen vor Libyen zu beschleunigen. Unterlassene Hilfeleistung hat System, und Zeit ist dabei eine Waffe der EU.
Das Ende der italienischen humanitär-militärischen Operation Mare Nostrum im Jahr 2014 markierte einen Wendepunkt. Als Reaktion auf ein verheerendes Schiffsunglück am 3. Oktober 2013 nahe Lampedusa beschleunigte diese Operation europäische Rettungsmaßnahmen vor der libyschen Küste und führte so zur Rettung von etwa 150.000 Menschen. Kritiker*innen brandmarkten Mare Nostrum allerdings als „Pull-Faktor“, der Anreize für die Flucht über das Mittelmeer schaffen würde. Die Operation wurde beendet und machte den Weg frei für eine Reihe europäischer Operationen, die mit der Verzögerung von Rettungseinsätzen experimentierten.