„Zigeunerlager“
Der Schauspieler und Schriftsteller Sepp Bierbichler kritisiert bei seinem „Überraschungs-Auftritt“ auf der Kundgebung gegen die Erichtung von Romalagern in Bayern am 27. Juli 2015 auf dem Münchner Max-Josef Platz die scharfzüngige Rhetorik der CSU in der Flüchtlingspolitik. Hier der Wortlaut seiner Rede…
Tausende aus unserm Land sind vor zwei Generationen vor staatlichem Terror ins Ausland geflohen, um ihr Leben zu retten, und Millionen, denen diese Flucht nicht mehr gelungen ist, sind durch ihre Ermordung gezwungenermaßen zum Stachel der Erinnerung im Erbfleisch der Nachgeborenen geworden – und haben damit posthum und ungefragt die Erziehung der Sprösslinge ihrer Mörder zu möglicherweise sozial agierenden Menschen übertragen bekommen. Diese Nachgeborenen sehen sich gerade zum ersten Mal wirklich vor die Probe aufs Exempel gestellt: Tausende begehren Aufnahme in dieses Land, ihrerseits auf der Flucht vor Krieg und staatlichem Terror in ihren Ländern. Die theoretische Erziehung will praktisch umgesetzt werden. Das erzeugt Stress. Die Probe heißt: Hat der Stachel im Fleisch der Erinnerung bei den Sprösslingen Früchte getragen?
Knapp und ohne Sentimentalität hat Walter Benjamin dieses Erinnern formuliert, bevor er sich, aus Angst vor der Auslieferung an die Mörder, in den Freitod geflüchtet hat: „Vergangenes historisch artikulieren heißt (…), sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“
Einer kürzlich erfolgten Umfrage nach haben sich 52 Prozent der Deutschen für weitere Hilfeleistungen für Flüchtlinge ausgesprochen. Das deutet darauf hin, dass die posthume Erziehung durch die Ermordeten bei den Nachkommen der Mörder Früchte zu tragen beginnt.
In dieser Situation, die ohne Zweifel zugespitzt ist, denn es gibt auch Flüchtlinge, die aus rein materieller Not flüchten – (hier sei angemerkt: Wer täte das nicht, der in solche Not gerät? Es handelt sich hier um einen Überlebenstrieb. Das lässt sich bei dem vom System erwünschten Trieb der Gewinnmaxi- mierung weniger selbstverständlich behaupten) – da also auch Flüchtlinge, die wirtschaftlicher Not entgehen wollen, in Bayern ankommen, kann es möglich sein, dass bei der Unterbringung Prioritäten im Verhältnis zu den Flüchtlingen aus Kriegsgebieten gesetzt werden müssen.