Ausgabe Nr 51 | geschlossene gesellschaft

Liebe Ausgeschlossene, liebe Leser*innen,

geschlossene Gesellschaft. Du kommst hier nicht rein. Die falschen Schuhe, der falsche Name, das falsche Gesicht. Nicht auf der Gästeliste. Wieder ans Ende der Schlange, nochmal versuchen. Dabei hast du doch alles richtig gemacht, denkst du …
Die einen dürfen rein, die anderen nicht. Es ist großartig, dass die Staaten der EU nun ihre Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet haben, unbürokratisch helfen und die Menschen in ihrer Not unterstützen. Beschämend ist es aber, dass diese Art der offenherzigen Hilfe nicht für alle Geflüchteten gleichermaßen gilt. Was richtig am Umgang mit ukrainischen Geflüchteten ist, wäre auch richtig im Umgang mit Geflüchteten aus Syrien, aus Afghanistan oder aus dem Sudan. Auch Syrer*innen fliehen vor den Bomben Putins – nur wird das oft vergessen. Staaten wie Polen oder die Slowakei, die jetzt Menschlichkeit zeigen, sind auch eben jene Staaten, welche die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 erst zur Krise gemacht haben. Polen lässt immer noch Geflüchtete an der Grenze zu Belarus erfrieren. Geflüchtete aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass bekommen nicht dieselbe Unterstützung wie Geflüchtete mit ukrainischem Pass. Die gleiche Not, eine andere Behandlung.
Und auch der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition verspricht für das deutsche Aufenthaltsgesetz nur kosmetische Änderungen. Die Anker-Zentren existieren immer noch. Und ins Land darf am Ende auch nur, wer nützlich ist – da sind die Grünen nicht minder Vertreterin der Kapitalfraktion als die FDP. Der Biomarkt regelt das schon. Dass der Kapitalismus und der Fetisch Arbeit abgeschafft werden, ist im Moment zwar leider noch Utopie. Doch Geflüchtete, vor allem Menschen ohne Papiere, haben nicht einmal die Möglichkeit, ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen, um sich damit ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. So frei ist die
freie Marktwirtschaft dann doch wieder nicht. Genauso wie die Anhebung des Mindestlohnes nicht für Insassen von Gefängnissen oder für Menschen mit Behinderung
gilt, die weiterhin in Werkstätten für einen Euro acht- undsiebzig pro Stunde ausgebeutet werden.
Die deutsche Gesellschaft – und nicht nur sie – ist eine geschlossene. Auch, wenn sie sich nach außen hin offen gibt, so haben gerade Menschen mit Migrationsgeschichte oder Behinderungen, Frauen, LGBTIQ*s, Hartz-IV-Empfänger*innen oder Menschen aus bestimmten Stadtvierteln – und deren Kinder – keine Chance, die gläsernen Decken des Kapitalismus zu durchbrechen, und bleiben außen vor. Das kapitalistische Märchen, dass Erfolg etwas mit der eigenen Leistung zu tun habe, ist immer noch populär. Den Armen wird ihre Armut damit noch als eigene Schuld verkauft, den Benachteiligten wird ihre Herkunft vorgeworfen. Und wer mit dem Privileg der richtigen Herkunft und des richtigen Erbes ausgestattet ist, will natürlich nicht wahrhaben, dass der Erfolg nicht der eigene ist, und glaubt und reproduziert dieses Märchen nur allzu gerne. Der goldene Käfig ist halt doch besser als das löchrige Schlauchboot.
Es bleibt also noch viel tun, um eine offene Gesellschaft zu erschaffen. Bis dahin: Hört nicht auf, die Türen der geschlossenen Gesellschaften einzutreten!

Eure Partybreaker von der
Hinterland-Redaktion

#wecare

Rund 17 Millionen Euro hat die Transit- und Abschiebungshafteinrichtung am Münchner Flughafen gekostet, die Anfang dieses Jahres eröffnet wurde. Nicht nur viel Geld, sondern auch viel Aufwand betreibt die Bayerische Staatsregierung, um die Abschiebehaftkapazitäten zu erhöhen. Christian Oppl berichtet über die neue Einrichtung in München und die Menschen, die dort inhaftiert sind.

Am Münchner Flughafen Franz Josef Strauß werden seit 2018 Abschiebehäftlinge untergebracht, zunächst in Containern in einem Frachthangar und seit Anfang dieses Jahres in einem Neubau. Die Einrichtung dient dem Bayerischen Landesamt für Rückführung und Asyl und Innenminister Herrmann als Vorzeigeobjekt – moderner Bau, liberaler Vollzug, Kinderspielecke im Transitbereich. Die Website des Flughafens ziert das Motto #wecare. Diese Fassade soll über die Brutalität der bayerischen Abschiebepraxis hinwegtäuschen. Die Insassen sind nicht für ein Vergehen eingesperrt, sondern weil sie ausreisepflichtig sind. Und die Behörden des Freistaats sorgen für die Durchführung der Abschiebung. Die Kapazitäten der bayerischen Abschiebehaftanstalten haben sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Weitere Anstalten sind in Planung. Von einer erheblichen Ausweitung der Abschiebhaft ist auszugehen, nicht zuletzt weil Gerichte in den meisten Fällen bereitwillig die von den Ausländerbehörden beantragte Haft anordnen und Beschwerden dagegen abschmettern.

Wir sind eine Gruppe von Ehrenamtlichen und fahren seit 2019 wöchentlich an den Münchner Flughafen, um Inhaftierte zu beraten. Wir sprechen mit den Betroffe- nen und versuchen, ihnen die rechtliche Lage zu erklären. Wenn möglich, prüfen wir Rechtsmittel gegen die Inhaftierung. An der aufenthaltsrechtlichen Situation und der drohenden Abschiebung können wir so gut wie nie etwas ändern, wie etwa bei zwei Abschiebungen nach Russland – im Februar 2022. Beide Betroffenen sind Tschetschenen, einer ist Familienvater, seine Frau und seine fünf minderjährigen Kinder leben seit acht Jahren mit ihm in Deutsch- land. Alle sind ausreisepflichtig. Der Vater kam wegen kleinerer Armutsdelikte in Haft, daraufhin wurde seine Abschiebung durch die Zentrale Ausländerbehörde Mittelfranken angeordnet. Per Telefon erreichte uns die Familie wenige Tage vor der Abschiebung. Sie berichteten uns von der drohenden Verfolgung des Vaters in Russland als tschetschenischer Separatist. Ein Asylfolgeantrag und die Intervention bei der Auslän- derbehörde bleiben ohne Erfolg, der Mann wird schließlich ohne seine Familie nach Russland abgeschoben. Auch der zweite Betroffene ist Tschetschene, seit acht Jahren in Deutschland und strafrechtlich nie in Erscheinung getreten. Seine psychische Erkrankung wird per „Befundgutachten“, also ohne persönliche Untersuchung, von einem Notfallmediziner aus Brandenburg beurteilt: Einer Abschiebung stehe nichts entgegen. Auch hier unterstützen wir den Betroffenen beim Stellen eines Folgeantrags, um die Abschiebung in die Russische Föderation zu verhindern. Doch die Behörden halten an der Abschiebung fest, er wird zwei Wochen, bevor Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine beginnt, nach Moskau abgeschoben.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Bosniens Winter – kein Ende in Sicht

Wer in Bosnien und Herzegowina als Geflüchtete*r strandet, hat kaum eine Chance, dort einen Asylantrag zu stellen oder weiter in die Europäische Union zu gelangen. Das verhindern zumeist gesetzliche und bürokratische Vorgaben, ebenso wie die Grenzpolizei. Schutzsuchende bleiben häufig ohne humani- täre Hilfe auf sich selbst gestellt, da Camps, wie Lipa nahe Bihać, offensichtlich keine gute Alternative bieten.

Im Dezember 2020 brannte das Lipa-Camp im Nordwesten Bosnien und Herzegowinas ab. Der Brand machte Schlagzeilen. Nur wenige Kilometer von der bosnisch-kroatischen Grenze entfernt steht heute das neue Camp Lipa. Die olivgrünen Militärzelte, die Menschen nach dem Brand aufstellten, sind Vergangenheit. Stattdessen säumen weiße Baucontainer und eine Halle aus Beton den Feldweg im Lager. Auf der anderen Seite der Schotterstraße, die an der Unterkunft vorbeiführt, lassen sich noch Überreste des alten Camps erkennen. Die Sonne, die hinter den Bergen westlich des Camps untergeht, taucht die Landschaft in sanftes Rot.

Bereits im August 2021 sollte das neue Lager öffnen, letztendlich klappte es im November. Den Bau
finanzierten EU-Gelder, neben direkter Unterstützung verschiedener europäischer Staaten. Die Leitung des Lagers hat nun das bosnische Ministerium für Sicherheit, unterstützt von Organisationen wie der International Organization for Migration (IOM) und dem Bosnischen Roten Kreuz.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Marcus*,
… kurz vor Drucklegung dieser Hinterland-Ausgabe hat uns die Nachricht von deinem Tod er- reicht. Wir wussten von deiner schweren Erkrankung und dennoch trifft uns diese Nachricht tief – auch wenn sie noch nicht wirklich in unseren Köpfen angekommen ist. Mannomann! Marcus, du bist doch für uns in München und weit darüber hinaus so etwas wie der personifizierte Aktivismus gegen Rechts, das lebende, wandelnde und immer aufnahmebereite Antifa-Ge- dächtnis. Du nimmermüder und umtriebiger Chronist aller rechten Umtriebe, mit großer Liebe zum Detail. Wo immer rechte Schwurbler*innen, neonazistische Fuzzis, sich bürgerlich ge- bende Populist*innen und son- stige finstre Gestalten sich zeigen, bist du verlässlich zur Stelle, de- zent am Rand, bewaffnet mit Fototasche, Kamera und deinem lexikalischen Wissen, um alles fest- zuhalten und dann im richtigen Augenblick Alarm zu schlagen.
Marcus, jedes Erdmännchen-Rudel hat ein besonders gewitztes Erdmännchen, welches –während sich die Herde mit anderen Dingen befasst – in wachsamer Erdmännchen-Pose seine Schnauze stetig in die Brise hält, mit scharfen Blick den Überblick bewahrt, um zu sehen, ob eine Gefahr droht, und um dann im Fall der Fälle die anderen lautstark zu warnen.
Genau so ein mutiges Aufpass- Erdmännchen, lieber Marcus, warst du für uns! Jetzt hast du deinen Beobachtungsposten dau- erhaft verlassen und hinterlässt deine ratlose, aber dir auch ver- dammt dankbare Erdmännchen-Herde zurück. Die Lücke, die du hinterlässt, wird nicht zu füllen sein, aber wir werden dei- nen Auftrag annehmen und weiterführen, jedes Erdmänn- chen eine Aufpass-Schicht, Alarm schlagen, wenn die Rechten kommen, während wir an dich und dein untrügliches Gespür für das Richtige denken. Allein schon, Marcus, damit deine Arbeit nicht umsonst war und immer jemand auf das Rudel aufpasst. Mannomann Marcus, Du fehlst jetzt schon.
Matthias & Laura

* Marcus Buschmüller, Gründer des a.i.d.a-Archivs und Leiter der Fachinformationsstelle Rechtsextremismus