Ausgabe Nr. 31 | mob
Liebe Leute,
in Deutschland tobt der Mob. Jeden Montag ziehen tausende Rassistinnen und Rassisten durch die Straßen und grölen menschenfeindliche Parolen. Im Internet sammeln sich terabyteweise Hasskommentare. Und tausend Anschläge auf Asylunterkünfte im Jahr 2015 sprechen eine deutliche Sprache: Eine rassistische Revolte ist im Gange. Anstatt dem Aufstand entgegenzutreten, schlägt die Politik mit voller Wucht in die gleiche Kerbe. Eine Asylrechtsverschärfung folgt der nächsten, ein Abschiebezentrum dem anderen – und von links bis rechts ist zu hören, dass Geflüchtete ihr „Gastrecht“ auch mal verwirkt ha- ben können. Wir haben uns diese Mobs genauer angesehen. Celia Rothe lebt in Sachsen, wo Über- griffe und Hass an der Tagesordnung sind. In ihrem Artikel beschreibt sie eindringlich, wie sich das Leben dort anfühlt. Wir haben den Facebook-Mob, den Zombie-Mob und eine Bürgerversammlung unter die Lupe genommen – und mit Journalisten gesprochen, die seit Jahren der fanatischen Schwungmasse vis-à-vis ausgesetzt sind. Wie sich die extreme Rechte in Frankreich derzeit aufstellt, berichtet uns der Schriftsteller Karim Miské im Interview. Wir haben ein Interview mit der Wissenschaftlerin Grada Kilomba über Rassismus und koloniale Wissensvermittlung geführt. Wie sich der Rassismus im derzeitigen Migrationsregime manifestiert, wird insbesondere in Griechenland deutlich. Naemi Gerloff und Katalin Kuse waren dort und informieren über einen der ersten zentralen „Hotspots“. Vom Hotmob bis zum Hotspot ist in der vorliegenden Ausgabe also allerhand Bedrückendes zu lesen. Auch die Bilder sind nicht verdächtig, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Doch nicht alle Mobs sind gefährlich. Phil Zero widmet seine Glosse dem Bienenmob. St. Müller ist Straßenmusiker. Er erzählt von der erwünschten Traube, die sich häufig um ihn herum beim Musizieren bildet: den Pedestrian-Kraut-Mob. Gerne hätten wir auch in dieser Ausgabe mehr Erfreuliches beigetragen – aber angesichts der aktuellen Niederlage bleibt auch uns nichts anderes übrig, als das Elend abzubilden. Auf eine wieder bessere Zeit hofft,
Euere Hinterland-Redaktion
Die neue Normalität
In Sachsen vergiftet der Hass die Leute und zerklüftet das Zusammenleben der Menschen. Gewalt, Beschimpfungen, niederträchtige Übergriffe passieren ständig und überall. Das Schlimmste: man gewöhnt sich daran.
Als Jugendliche habe ich mich oft gefragt, wie das eigentlich passieren konnte – in den dreißiger Jahren. Dass so viele Menschen nicht rechtzeitig gehandelt haben. Dass sie nicht geflohen oder untergetaucht sind. Rechtzeitig. Bevor es zu spät war.
Heute kenne ich die Antwort: Es gibt keinen bestimmten Zeitpunkt. Der Hass nimmt schleichend Überhand. In kleinen Stücken. Das haben die vergangenen Jahre in Sachsen gezeigt. Wie ein Geschwür durchdringen hier braune Gedanken die sozialen Schichten. Hoffnung? Die gibt es. Und sie stirbt zuletzt. Immer wieder höre ich den Satz: „Es kommen auch wieder bessere Tage. Du wirst sehen.“ Ich sehe, dass wir langsam hineinwachsen in unsere neue, braune Realität.
Offene Gewalt? In Chemnitz ganz normal. Das klingt jetzt wahrscheinlich alles sehr kryptisch. Die Gedanken überschlagen sich und ich muss mich beeilen, alles schnell aufzuschreiben. Solange es mich noch wundert. Denn wenn ich nicht aufpasse, wundert mich überhaupt nichts mehr. Ich wohne in Chemnitz. Und ich wundere mich nicht mehr darüber, dass ein Bekannter von mir aus Ägypten an einem frühen Abend mitten in der Stadt, umgeben von vielen verschiedenen Leuten, unter Anwesenheit der Polizei, zusammengeschlagen wird. Ich gewöhne mich daran, dass einem Freund von mir jeden Abend aufgelauert wird. Er ist Syrer, und jeden Abend lässt er sich von einem Mann, den er nur vom Sehen her kennt, bedrohen und schlagen. Er hat Angst, sich zu wehren oder sich der Polizei anzuvertrauen. Er hat Angst, dass ihm die Polizei nicht helfen wird. Ich habe aufgehört, mich darüber zu wundern, dass der 15-jährige Sohn einer engagierten Bekannten vor einer brüllenden Meute Männer davonläuft, die seinen Personalausweis haben will, um auf diese Weise zu erfahren, wo seine Mutter wohnt, um ihr mal richtig einzuheizen. Er flüchtet nach Hause. Sie sehen ihn im Hauseingang verschwinden. Er hört sie grölen: „Aha! Hier wohnt also die Flüchtlingsschlampe!“
(der ganze Artikel im PDF Format)
Mobs aller Länder, vereinigt euch!
Russlanddeutsche demonstrieren seit Januar gegen Flüchtlinge. Das stellt die Freundinnen und Freunde von Toleranz und Vielfalt vor ein Problem.
Der Antifaschismus der Mitte mag klare Feindbilder. Sei es Die Rechte, Pegida oder mittler- weile auch die AfD: Wenn die üblichen Verdächtigen den Volkswillen auf die Straße tragen, sind Trillerpfeifen und „Bunt statt braun“-Schilder auf der Gegenseite vorprogrammiert. Doch die Welt ist kompliziert. Antisemitinnen und Antisemiten gibt es auch unter Linken. Ottonormalmenschen zünden Flüchtlingsunterkünfte an und Nazis sehen mittlerweile aus wie Antifas. Kaum etwas zeugt so sehr von der Sehnsucht nach einfacheren Zeiten, als die bei den meisten Medien übliche Bebilderung der täglichen Polizeimeldungen über vermutlich „rechtsmotivierte“ Straftaten. Aber Springerstiefel mit weißen Schnürsen- keln sind bei Neonazis heutzutage nun wirklich nicht mehr en vogue, ein paar Landstriche im Osten Deutschlands ausgenommen. Die breite Täterpalette wird auf den gemeinen, bierseligen Skinhead der 90er- Jahre reduziert, den es so eigentlich gar nicht mehr gibt. Dass aber mitunter selbst von Diskriminierung betroffene Bevölkerungsgruppen Ressentiments hegen und nun auch auf der Straße pflegen, bringt die Freundinnen und Freunde von Toleranz und Vielfalt in die Bredouille.
Seit Januar macht eine Bevölkerungsgruppe von sich reden, die hierzulande normalerweise selten öffentlich wahrgenommen wird. In zahlreichen Städten haben russischsprachige Menschen gegen die üblichen Probleme (Merkel, lüsterne Flüchtlinge) und für die „sichere Heimat“ demonstriert. Auslöser war die, wie sich schnell herausstellte, erfundene Geschichte eines Mädchens aus einer russischsprachigen Familie in Berlin, das von „südländisch“ aussehenden Männern vergewaltigt worden sei. Vor allem in Süddeutschland demonstrierten die aufgebrachten Bürgerinnen und Bürger. Mit Parolen wie „Merkel muss weg“, „Lügenpresse“ und „Meine Heimat bleibt deutsch“ fanden hunderte Russlanddeutsche den Schulterschluss mit alten Bekannten von Pegida und AfD. Dass natürlich auch urdeutsche Rechtspopulistinnen und Rechtspo- pulisten und Neonazis zugegen waren und zum Teil auch wichtige organisatorische Hilfe leisteten, können einige Akteure „gegen rechts“ nur als Verführungs- und Täuschungsaktion verstehen.
(der ganze Artikel im PDF Format)
„Bahnhöfe sind spannend und gefährlich.“
Hamun Tanin ist nicht nur Politikwissenschaftler sondern auch ein ausgesprochener Über- lebenskünstler. Er und Matthias Weinzierl sprechen über ihre Erlebnisse mit dem Mob, Pegida
von links, Eins-zu-Eins-Betreuung, die Büchse der Pandora und gute Satire.
Matthias: Hamun, bevor wir loslegen, möchte ich noch die Standard-Dumpfbacken-Fragen abarbeiten, denn du hast einen Migrationshintergrund und da ist das ja quasi Pflicht. Also: Woher kommst du? Wie lange bist du schon da und wie gefällt es dir hier?
Hamun: Das Licht der Welt habe ich im sogenannten Schurkenstaat und auch schon als Terrornest bezeichneten Afghanistan erblickt und bin seit knapp 23 Jahren in Deutschland. Seit 2009 lebe ich in Bayern.
Du kannst ja schon sehr gut Deutsch, wie mir auffällt.
Danke, du auch. Was in Bayern nicht immer selbstverständlich ist.
Danke.
Bitte.
Wo warst du vor Bayern?
In NRW, im Siegerland.
Wie schön.
Um die Ecke, im Sauerland, wurde der Film „Antichrist“ von Lars von Trier gedreht, und es ist genau so düster dort wie im Film.
Wie alt bist du?
33 Jahre.
Du bist also als relativ kleiner Pimpf hierhergekommen.
Genau.
Einstieg abgeschlossen. Wo begegnet dir also der Mob in deinem Alltag?
Wenn ich am Münchner Ostbahnhof aus- und umsteige, treffe ich zu bestimmten Uhrzeiten auf einen Mob, umgeben von einer bestimm- ten Atmosphäre und einem bestimmten Geruch. Aber auch in der Düsseldorfer Altstadt und auf der sympathischen Wiesn in Rosenheim gibt es den Mob. Es erinnert daran, was Elias Canetti in Masse und Macht beschreibt. Wenn ich an Bahnhöfen bin, ist es für mich immer spannend und gleichzeitig auch gefährlich.
(der ganze Artikel im PDF Format)
Die Karriere der Hotspots
Vom Registrierungszentrum zum Abschiebeknast
Nach den Migrationsbewegungen des letzten Sommers avancierte das Konzept der „Hotspots“ zum medialen Schlagwort im Krisenszenario sowie zur Lieblingslösung in der Rettung des Europäischen Grenzregimes. Bislang stellten die Hotspots vor allem Zentren dar, in den Geflüchtete sich registrieren lassen mussten. Nachdem am 18. März das Abkommen zwischen der EU und der Türkei beschlossen wurde, verschiebt sich die Funktion der Hotspots jedoch hin zu geschlossenen Abschiebeknästen.
Bereits im Juli 2015 wurde die Einrichtung von insgesamt neun Hotspots, fünf in Griechenland und vier weitere in Italien beschlossen. Insbesondere die Europäische Kommission und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatten diesen Ansatz mit der im Mai verabschiedeten „European Agenda on Migration“ vorangetrieben und präsentieren ihn als Idee neuer, europäischer Grenzsicherung.
Nach monatelangem Zögern und erst nach massivem Druck der EU, richtete Griechenland ab Januar 2016 mit Hilfe des Militärs innerhalb kürzester Zeit vier Hotspots auf den Inseln Leros, Samos, Chios und Lesbos ein. Auf der Insel Kos wurde der Bau aufgrund von rechten Bevölkerungsprotesten weiter verzögert. Trotzdem konnte die griechische Regierung pünktlich zum EU-Krisengipfel am 18. Februar viereinhalb fertige Hotspots präsentieren.
Doch niemand konnte genau beantworten, ob sie wirklich fertig waren oder wie ein fertiger Hotspot auszusehen hat. In den griechischen Medien entwickelte sich der Begriff „Hotspot“ schnell zu einer Bezeichnung für jegliche, neu eröffneten Flüchtlingscamps. Dies suggeriert vor allem, dass es sich um etwas „Neues“, durch Europa Eingesetztes handelt.
(der ganze Artikel im PDF Format)
Illustration: Annemarie Otten