Ausgabe Nr. 50 | utopie

Liebe Leser*innen,

„Aufruhr, Widerstand, es gibt kein ruhiges Hinterland!“, ist ein alter Slogan auf linken und antirassistischen Demonstrationen.
„Who the Fuck ist Hinterland, wenn nicht wir?“ sinnierte Christoph Merk im Sommer 1999, als er mit Matthias Weinzierl in Italien saß und Wein trank. Christoph träumte von einem neuen Punk-Fanzine, Matthias wollte den monatlichen Infodienst des Bayerischen Flüchtlingsrats aufpeppen.

Und es ist nicht zu glauben: Die Idee, die Utopie von damals hat sich verwirklicht und ist jetzt schon 50 Ausgaben alt – und 15 Jahre. Wer gewisse Grundkenntnisse der Mathematik besitzt, wird merken, dass wir unser Ziel von vier Ausgaben pro Jahr nicht ganz erfüllt haben. Unsere Abonnent*innen mögen uns dies bitte verzeihen. Und auch der Punkrock ist etwas weniger geworden. Dafür haben wir in diesen 50 Ausgaben aber immerhin eine Gesamtzahl von 4.610 Seiten produziert sowie insgesamt sieben Redaktionsbüros, 85 Redaktionsmitglieder und unzählige Kaltgetränke verschlissen.

Die Redaktionsmitglieder waren, bevor sie verschlissen wurden, zu sechs Exkursionen in anderen Städten. Zuletzt 2019 in Berlin bei der Siegessäule und 2021 in Frankfurt bei der Titanic. Acht Hefte sind in Kooperation mit anderen Flüchtlingsräten, Zeitschriften oder Organisationen entstanden. Der Frauenanteil hat sich von Ausgabe #1 (33 %) bis zur Ausgabe #50 (70 %) stetig vergrößert. Das jüngste aktuelle Redaktionsmitglied ist 19 und das älteste 73 Jahre alt. Und wir alle stecken voller Herzblut in diesem Magazin, das für uns so viel mehr ist als nur eine ehrenamtliche Tätigkeit – es ist ein Zuhause und eine zweite Familie.

Aber genug der Nostalgie, in dieser Ausgabe wollten wir den Blick in die Zukunft schweifen lassen und nach den Sternen greifen. Klimawandel und Pandemie, Rassismus, Antisemitismus und Kapitalismus – es gibt genügend Gründe, um in Utopien zu schwelgen und von einer besseren Welt zu träumen. Eine Welt, in der es egal ist, wo du geboren wurdest, wie du aussiehst oder aus welcher Gegend deine Eltern kommen. Eine Welt, in der du lieben kannst, wen du willst und in der du sein kannst, wie du willst. Eine Welt ohne Grenzen, in der alle Menschen sich frei bewegen können.

Eine Welt, in der alle Menschen Zugang zu sauberem Wasser, zu genügend gesunder Nahrung und zu Bildung haben, in der es medizinische Versorgung und Impfstoff für alle gibt – und auch kostenlose Menstruationsprodukte. Eine Welt, in der niemand zur Lohnarbeit gezwungen ist. Eine Welt ohne Nation und ohne Staat, ohne Rassismus und Antisemitismus, ohne Umweltzerstörung – und ohne Kapitalismus.

Davon träumen wir immer noch, doch kann davon nur ein kleiner Aspekt in dieser Ausgabe behandelt werden. Und selbst beim Träumen holt uns die Wirklichkeit wieder ein: Darum widmet sich dieses Mal ein Länderschwerpunkt dem Thema Afghanistan. Füllte das Land vor einigen Wochen noch die Schlagzeilen, so ist es nun wieder in der Dunkelheit der medialen Schnelllebigkeit verschwunden. Das wollen wir ändern. Eine sehr kleine Utopie …
Bis dahin: Hört nicht auf zu träumen, bis wir alle bei Kuchen und Cocktails am Strand sitzen!

Eure Utopist*innen von der Hinterland-Redaktion

P.S.: Wir von der Redaktion möchten besonders unserem liebsten Matthias danken, der seit der ersten Ausgabe dabei ist und die Hefte erst in diese schöne Form bringt, in der ihr, liebe Leser*innen, sie in den Händen haltet. Dazu benötigt er pro Ausgabe ungefähr 22 Stunden. Ohne ihn wäre das alles nur ein großer Haufen Buchstabensalat. Derselbe Dank gebührt auch unserer liebsten Agnes. Sie unterstützt nicht nur Matthias in der grafischen Gestaltung und macht das Heft so wunderschön, sie schreibt auch noch Anträge und hält den Laden am Laufen. Danke, ihr beiden!

 

Diese Ausgabe fand in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung statt:

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We need bridges that connect, not the walls that separate

Eine Mauer soll um das Geflüchtetenlager Ritsona gebaut werden, und den Ort endgültig zu dem machen, was er bereits ist: ein Gefängnis, dessen Insassen kriminalisiert und abgeschnitten von der Welt aller menschlichen Grundrechte beraubt sind. Doch warum regt sich kein Widerstand? Mit ihren Letters to the world from Ritsona bringt Parwana Amiri die Stimmen Geflüchteter aus dem griechischen Lager in alle Welt. Dies ist Brief Nummer 20.

few days ago, I woke up as usual and got ready to go to my class. As I walked along, I noticed some bulldozers and many workers working by the back gate, constructing something. They had already laid down some long, red metal rods. When I asked them about them, they told me that they were going to build a wall all around the camp. They also told me that wall would be 3 meters high and the project would finish in a month.
The Ritsona camp has been an open structure for years. It should not, under any circumstance, become a closed structure. This assertion is not based on a theoretical and idle consideration of the concept of detention. It is based on the paramount concept of social integration as a policy and aspiration for immigrants and refugees. A closed camp not only makes the goal of integration with the local society impossible, it also violates the most basic human rights of the inhabitants of the camp and deprives them of that minimum freedom of movement they have had. The people of Ritsona have not committed any crime for which they need to be kept apart from the rest of the world around them. The people of Ritsona need to be seen and acknowledged in their humanity and the rights that derive from their humanity.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Möglichkeiten gibt es immer

Solange es noch Abschiebungen aus Europa nach Afghanistan gab, war Abdul Ghafoor einer der wichtigsten Ansprechpartner in Kabul. Er ist der Gründer und Leiter von AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organization). In der Vergangenheit hat Abdul vielen abgeschobenen Geflüchteten bei ihrer Ankunft in Kabul geholfen und sie beraten. Nun musste er selbst aus Afghanistan raus, weil die Situation für ihn zu gefährlich wurde. Wir haben mit ihm über die Arbeit von AMASO, seine eigene Evakuierung und die Evakuierungsmaßnahmen der deutschen Regierung gesprochen.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Was für ein Wort

Gibt es überhaupt noch eine lebendige linke Utopie?

Der Namenserfinder der Hinterland weist den Gedanken von sich.

utopie. was für ein wort. und dass wir heute noch wagen, es in den mund zu nehmen oder zu tippen. andere grosse worte wie ,freiheit‘ oder gar ,widerstand‘ haben längst die seiten gewechselt und werden – zumindest in den debatten der letzten jahre – eher von der anderen seite ins felde geführt. es gibt intelligente oder zumindest rhetorisch begabte mitmen- schen, die behaupten, ideologiekritik zu betreiben und der linken beinahe jede kulturelle regung der letzten dreiundfünfzig jahre eher ankreiden als anrechnen, weil fast alles irgendwann von rechts kopier- oder okkupierbar war. man denke nur an das auftauchen der so genannten ‚autonomen nationalisten‘, deren ästhetik wahrhaft eins zu eins von schon etwas länger bestehenden linken zusammenhängen geklaut war. wenn wir – aber gibt es überhaupt noch ein ‚wir‘ ? – also über utopie reden, sollten wir vorsichtig sein, es könnte uns später vorgewor- fen werden, die rechten erst auf die idee gebracht zu haben, so etwas auch zu diskutieren.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Taleban – regierungsunfähige Sieger

Drei Monate nach der Machtübernahme der Taleban in Afghanistan erweist sich ihre Herrschaft als gefestigt und teilweise janusköpfig. „Die Sicherheit ist jetzt besser, denn der Krieg ist vorbei“, sagte der Vorstand einer Tadschiken- Gemeinde aus der Provinz Logar südlich von Kabul. Die Taleban hätten auch die „Aber es gibt viele neue Probleme. Die Märkte sind zwar offen, trotzdem gibt es keine Arbeit. Vorher gab es Hilfe von NGOs. Außerdem herrscht Dürre, und wir hatten keine Ernte. Die Menschen kämpfen mit der Armut.“

Tatsächlich kontrollieren die Taleban inzwischen das gesamte Land. Bewaffneter Widerstand im Pandschirtal blieb isoliert und brach schnell zusammen, auch wenn Protagonisten online das Gegenteil behaupten. Es gibt derzeit keine politische Alternative mehr zu ihnen. Zivilgesellschaftliche Organisationsstrukturen und gewählte Vertretungskörperschaften wie das Parlament lösten sich auf. Die Anti-Taleban-Warlords entpuppten sich als Kolosse auf tönernen Füßen. Ihre mit CIA- Geldern aufgebauten Milizen liefen wie die Regierungstruppen ohne signifikante Gegenwehr vor

Ausland. Eine geplante Exilregierung soll nach Mitteilung der dissidenten afghanischen Botschaft in der Schweiz schon existieren. Aber ob und wie der Pandschir-Widerstand und die Warlords kooperieren, ist unklar. Einige Warlords haben im Ausland separat einen Hohen Widerstandsrat der Islamischen Republik Afghanistan gegründet. Die Pandschir-Bewegung erhielt von den US-Behörden mittlerweile die Erlaubnis, eine Auslandsvertretung in Washington zu eröffnen; auch in Tadschikistans Hauptstadt Duschanbe soll sich ein Büro befinden, auch wenn die dortige Regierung erklärte, sie wisse davon nichts. Dahinter stehen jeweils Fraktionen einer Elite, deren systemische Korruption und politischer Exklusivitätsanspruch maßgeblich zum Scheitern des westlichen Afghanistan-Einsatzes beitrugen und sich jetzt an ihren Machtan- spruch klammern, jedoch in den Augen weiter Teile der Bevölkerung ihre politische Legitimation verloren haben.

(der ganze Artikel im PDF Format)

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