Ausgabe Nr 52 | rausch
„Bier, Bier, Bier! Bett, Bett, Bett!”
(Homer J. Simpson)
Liebe Rausch-Suchende, liebe Leser*innen,
es gibt einige sehr plausible anthropologische Theorien, wonach der Mensch nicht deshalb sesshaft geworden sei und Ackerbau betrieben habe, weil er sich ernähren musste, sondern weil er Bier brauen wollte. Im heutigen Nahen Osten, in Mesopotamien und Ägypten wurden riesige Brauereianlagen gefunden, die auf 3.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung datieren. Und in nahezu jeder der über den gesamten Erdball verstreuten menschlichen Kulturen gab es Mittel zur Erzeugung von Rauschzuständen. Seien es halluzinogene Pilze und Kakteen oder andere Pflanzen, Kräuter und tierische Gifte. Der Rausch begleitet den Menschen seit Urzeiten. Und nicht nur ihn – auch in der Tierwelt ist der Verzehr von vergorenem Obst und der damit einhergehende Rausch beliebt. Die gezielte Herstellung von Bier und Wein aber, oder gar das Destillieren von Hochprozentigem, haben diesen primitiven zufälligen Konsum in eine Kulturleistung verwandelt, die – nüchtern betrachtet – in ihrer Bedeutung mit der Erfindung des Buchdrucks oder des USB-Sticks zu vergleichen ist.
Doch der Rausch war nicht immer nur das Eintreten in eine andere Welt, in einen ekstatischen, positiven Zustand. Rausch war nicht automatisch Freiheit des Individuums, wie er heute oft gesehen wird, er wurde ebenso schnell zu Herrschaft. Schon in der Vorzeit waren es oftmals die Schaman*innen, die durch ihre rituellen Handlungen mächtig gewordenen Männer und Frauen, denen der Konsum bestimmter Substanzen und damit der Rausch selbst vorbehalten war. Ihr zeremonieller Rausch manifestierte ihre Herrschaft über die Nicht-Berauschten.
In der griechischen und römischen Antike wurden Soldaten mittels Alkohols enthemmt, um besser kämpfen zu können – oder zumindest furchtloser. In totalitären Systemen wie dem deutschen Nationalsozialismus, war der Rausch auf der einen Seite verpönt und wurde Reinheit in jeglicher Hinsicht angepriesen. Auf der anderen Seite aber wurde der Rausch nicht nur in kultischen Massenveranstaltungen als Mittel zum Zusammenschweißen des völkischen Kollektivs zelebriert – Drogen wie das damals als Panzerschokolade bekannte Crystal Meth dienten dazu, die Soldaten zu enthemmen, aggressiver zu machen und wach zu halten. Antisemitischer Wahn und Blitzkrieg auf Speed.
Die Hippie-Bewegung der 1960er und 70er Jahre, Autoren wie Aldous Huxley oder zweifelhafte Prediger wie Timothy Leary sahen im Drogenkonsum einen Akt der Befreiung, ein Ausbrechen in eine bessere Welt, Freiheit und Individualismus. Ob nun allerdings Cannabis den Menschen befreit oder gar LSD uns alle in den Kommunismus führt und diese Welt rettet, sei einmal dahingestellt … Dass Menschen im Rausch sehr viel Dummes machen, ist hingegen sicher.
Doch Rausch ist weder gut noch schlecht, er ist weder Freiheit noch Herrschaft. Und er ist eben noch so vieles mehr als nur stofflich von außen induzierte Ekstase (oder Paranoia). Er ist der Adrenalin- und Dopamin-Rausch, wenn man mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug springt und dem Boden entgegensaust, oder wenn man der geliebten Person gegenübersitzt, kein Wort über die Lippen bringt und dabei auch gefühlt dem Boden entgegensaust. Rausch ist so vieles mehr. Vor tausend Leuten auf der Bühne stehen oder mit tausend Leuten im Schwarzen Block. In die Tiefe tauchen oder in die Höhe klettern. Der Rausch, den Musik, Kunst, Sport oder Sex in einem erzeugen können, wirkt nicht minder wie eine Droge. Ein hypnotisches Konzert oder eine ekstatische Nacht zu zweit (oder zu dritt). Der Rausch, wenn man wie in Trance stunden- oder gefühlt tagelang an einem Kunstwerk, einem Text – oder auch seinem Auto – arbeitet und am Ende erschöpft und glücklich vor dem Ergebnis steht (oder alles kaputthaut). Und auch das alles deckt nur einen winzigen Aspekt des Rausches ab.
Doch nach dem Rausch kommt oft der Kater. Und manchmal ist der Kater schon da, bevor man überhaupt sich berauschen konnte – oder es irgendeinen Rausch gab. So, wenn man an die Außengrenzen der EU schaut. Während wir an diesem rauschenden Heft gearbeitet haben, haben sich ein paar Redaktionsmitglieder den äußerst empfehlenswerten Podcast Memento Moria von Sham Jaff, Franziska Grillmeier und Team angehört, der das Leid an den EU-Außengrenzen durch umfassende Recherche und Gespräche mit Pushback-Überlebenden anschaulich wiedergibt. In den rauschenden Fluten des Mittelmeers verliert die EU ihre Menschlichkeit.
Wenn euch von all dem nun langsam der Kopf zu rauschen beginnt, seid ihr bei uns genau richtig.
Möge für euch auf den Rausch nie der Kater folgen.
Eure von diesem Heft ganz berauschte
Hinterland-Redaktion